Konfliktkultur: Zusammenarbeit - Der fremde Wundertäter
„Denn wer nicht gegen uns ist, der ist für uns.“ (Mk 9,40)
Evangelium:
Der fremde Wundertäter (Mk 9,38-41, Lk 9, 49-50)
Das Ordnungsdenken der Jünger wird durch eine erfreuliche Situation erschüttert. Jemand beruft sich in seinen guten Taten auf Jesus, gehört der Gemeinschaft jedoch nicht an. Was soll das heißen? Wie soll man mit dieser Situation umgehen?
Zunächst ist festzustellen, dass tatsächlich Gutes in ehrlicher Weise geschieht. Da der Fremde dies im Namen Jesu tut, muss er wohl irgendeine Beziehung haben, über die Jesus selbst offenbar nichts Näheres weiß. Die Jünger sind irritiert, weil eine nähere Verbindung nicht zustande kommt. Der Fremde folgt nicht nach. Er behält seine Eigenständigkeit und äußere Distanz, die durch innere Verbundenheit nicht überbrückt wird.
Jesus ist nicht beunruhigt. Zwar ist seine Botschaft an seine Person gebunden. Aber auch eine teilweise (?) Annahme der Botschaft ist schon etwas Positives. Jede gute Tat baut das Reich Gottes auf. Da besteht eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen den Jüngern und dem Fremden. Sicherlich wird man in den gemeinsamen Anliegen nie gegeneinander auftreten und nie schlecht voneinander reden. Das vorhandene Gute soll anerkannt werden. Es besteht keine Veranlassung, einen „Mangel an Nachfolge“, einen Mangel an Verbundenheit, zu kritisieren.
Im Sinn einer christlichen Konfliktkultur wird ein Weg der Vereinnahmung oder der einseitigen Aufhebung der Distanz („wir erkennen ihn einfach als Jünger an“) nicht gegangen. Es gilt, alle Menschen guten Willens und deren Engagement zu schätzen, egal wie fremd oder verbunden sie dem christlichen Glauben sind. Distanz und Unterschiedlichkeit mögen bestehen bleiben, hindern aber nicht das Zusammenstehen aus welcher Motivation heraus auch immer (vgl. auch Mk 9,41).
Es ist Gelassenheit angesagt. Gott lässt Gutes nicht nur in den Räumen der Kirche wachsen. Und nicht alles muss in eine Kirche hineingezwängt werden, die nicht für alles kompetent ist. Sie wird sich dankbar anregen lassen und es nach Kräften unterstützen (vgl. Gaudium et Spes 42 und 44). Aber eine Übernahme von Aufgaben wird schon wegen eines anderen „Umfelds“ nicht immer möglich sein.
Gott erweckt überall und bewirkt eine Gemeinsamkeit, die über alle sichtbaren Grenzen und Ordnungen hinausgeht. Vor Gott zählt, dass Menschen guten Willens zusammenarbeiten, um aus ihrer Sicht und nach ihren Möglichkeiten etwas zum Aufbau einer umfassenden Solidarität der einen Familie Menschheit beitragen. Das ist ein Stück Reich Gottes.
Konfliktkultur: Kleinlichkeit - Der Streit über das Fasten
„Der Sabbath ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbath.“ (Mk 2,27b)
Die Streitgespräche Jesu mit den Pharisäern sind unterschiedlich gewichtig. Schimpfworte (Mt 23, 27. 33, Lk 16,15) verwendet er erst gegen Ende, als sich sein Widerwillen wohl entsprechend angesammelt hat und zurückhaltendere Ausdrucksweisen erwiesenermaßen nutzlos waren. Vor allem stört ihn die Kleinlichkeit einer pharisäischen Geisteshaltung. In der einen oder anderen Sache könnte man schon über Kleinkariertheit hinwegsehen, aber wenn diese immer und immer wieder bei allen nur möglichen Gelegenheiten begegnet, wird dies zu einem unüberwindlichen Problem. Das verärgert, nervt, lähmt, blockiert und lässt schließlich jede Kleinigkeit zu einer überflüssigen und unlösbaren Grundsatzfrage werden.
Z.B. wenn die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse durch ein kleinkariertes Ordnungsdenken unterdrückt wird. Dabei geht es zwar um kleine Dinge, aber es ist unnötig und vor allem fühlt sich ein Mensch in seiner konkreten Situation missachtet, ja verachtet.
In der Folge kann aus dieser Grundhaltung Schlimmes entstehen, wie etwa das Verhalten des Priesters und des Leviten im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, die möglicherweise ihre Hilfeleistung unterlassen haben aufgrund der Einhaltung der Reinheitsgesetzte im Zusammenhang mit dem Tempeldienst, zu dem sie unterwegs waren (Lk 10, 25-37).
Wie viele kleinliche Ordnungen gibt es im gesellschaftlichen Leben? Wie viele an und für sich nicht schlechte Rituale sind im Einzelfall unterdrückend? Wie oft werden eigene Maßstäbe und Bedingungen an andere angelegt, bevor man überhaupt bereit ist zum mitmenschlichen Kontakt? Die Grenzen zwischen Höflichkeit und leeren Floskeln, zwischen notwendiger Beachtung gesellschaftlicher Regeln und deren Irrelevanz in einer konkreten Situation, das unverzichtbare Bestehen auf der Einhaltung einer Ordnung und dessen Kontrolle als Ausdruck von Macht sind fließend.
Im Sinn einer christlichen Konfliktkultur steht immer der Mensch an erster Stelle. Dabei ist klar, dass eine Ordnung, die im Einzelfall aufzuheben ist, allgemein gültig bleibt. Trotz Jesu Souveränität und „Ignoranz“ gegenüber kleinlichen Vorschriften stellt er die Bedeutung des Gesetzes nicht im Geringsten in Frage:
„Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ (Mt 5, 17-20).
Aber die notwendige Unterordnung des Einzelnen darf nicht seine Versklavung bedeuten. Denn es gehören zwei Pole zusammen: das Verstehen und Befolgen einer Vorschrift sowie die Souveränität, irritierende Einzelaspekte zu übergehen, wenn dies der Situation, den Bedürfnissen und dem Geist des Evangeliums angemessen ist.
Eine Festlegung, worum es sich dabei im Einzelnen handelt, ist unmöglich. Was alles an Ordnungen gesamtgesellschaftlich in Frage gestellt wird, ist kaum mehr aufzulisten und noch schwerer allgemein beantwortbar. Es kommt auf die Haltung an und auf die Bereitschaft, in konkreten Situationen den Willen Gottes neu zu suchen – im Gebet und im Gespräch –, um dem Gewissen gemäß zu entscheiden und zu handeln.
Konfliktkultur: Bescheidenheit - Über die Wahl der Plätze beim Gastmahl
„Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ (Lk 14,7-11)
Evangelium: Mahnung zur Bescheidenheit (Lk 14,7-11)
So ganz überzeugend sind die Worte Jesu auf den ersten Blick nicht. Bescheidenheit findet selten Anerkennung. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gastgeber einem Besucher eine solche Aufmerksamkeit wie geschildert erweist, ist nicht hoch. Aufgrund dieser Erfahrungen haben sich wohl die Gäste ihre Plätze bereits ausgesucht. Sollte wirklich einmal eine Sitzplatzverschiebung durchgeführt werden, wird es zwar einmal beschämend, aber man hat ja schon zuvor oft von selbst ausgesuchten ehrenvollen Plätzen profitiert.
Als Handlungsanweisung für die Situation „Gast“ taugt diese Bibelstelle nach unseren Erfahrungen nicht besonders. Denn so einen aufmerksamen und korrekten Gastgeber gibt es selten. Also liegt der Sinn der Worte Jesu auf einer anderen Ebene.
Alle sind in der beschriebenen Situation Gäste, d.h. man kennt sich zum größten Teil, vor allem hat jeder eine mehr oder weniger vertraute Beziehung zum Gastgeber. Man weiß nicht genau, wer aller kommt, aber man ist einander verbunden und freut sich auf ein kleines Fest. Die Situation verlangt Aufmerksamkeit, Rücksichtnahme, Offenheit und ein Stück eigenes Bemühen, damit das Treffen in einer erfreulichen und herzlichen Atmosphäre stattfindet.
Die Gäste sind unterschiedlich „vornehm“, das heißt: In ihrer gesellschaftlichen Stellung oder in ihrer Nähe zum Gastgeber gibt es Unterschiede, die man aus Höflichkeit berücksichtigen muss. Aus christlicher Sicht gilt es, die anderen grundsätzlich zu achten, ja, in gewissem Sinn der Diener zu sein (vgl. Mt 23,11-12). Das ist kein Trick, um insgeheim doch der Größte zu sein, sondern entspringt einer inneren Größe, die imstande ist, den anderen als „Vornehmen“ anzuerkennen. Diese Sicht beruht unter Gleichgesinnten auf Gegenseitigkeit und erklärt gerade den Bescheidenen für ehrwürdig.
Im Sinn einer christlichen Konfliktkultur verhindert die Wertschätzung des anderen, die Anerkennung seiner Ehre, unangenehme und unter Umständen peinliche Situationen. Dieses Zugestehen von Würde ist immer richtig. Eine berechnende Einschätzung von Positionen oder vom Wert einer Person könnte hingegen eine Täuschung sein oder eine Beleidigung verursachen.
Es kommt nicht wirklich auf die Reihenfolge der Sitzplätze an, sondern auf das gegenseitige Zuvorkommen, auf Rücksicht und Aufmerksamkeit, auf den Blick, der sich zuerst auf den anderen und besonders auf den Gastgeber richtet. Man setzt sich innerlich nicht an die erste Stelle, sondern ordnet sich in die Gemeinschaft der Geladenen ein. Das erzeugt eine Atmosphäre gegenseitiger Wertschätzung.
Wer mehr sein will, als er ist, wird einmal auf die Nase fallen, auch wenn er vorher oft imponieren konnte. Ein gesundes Maß an rechter Selbsteinschätzung wird empfohlen, auf jeden Fall aber Bescheidenheit, mit der man im Zweifelsfall stets besser und „vornehmer“ handelt.
Konfliktkultur: Rangstreitigkeiten - Wer ist der Größte?
„Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.“ (Mk 9,35)
Evangelium:
Das Kind ist das Größte (Mt 18, 1-5, Mk 9,33-37, Lk 9, 46-48)
Die Schwierigkeiten mit dieser Bibelstelle haben sich heute verschoben. Kaum ein Christ wird zugeben oder von sich glauben, dass er der „Größte“ sein will. Das Ansehen, das jemand mit einem Amt genießt, weiß der Amtsträger rückgebunden an den Auftrag des Dienens und des Klein-Seins vor Gott. Andererseits gilt das Streben nach Ansehen als zur eigenen Persönlichkeit gehörig. Tatsächlich meint man oft, nur anderen gehe es um Macht. Diesen gehe es nur nach außen hin um einen Dienst, in Wirklichkeit steckt das Streben nach Macht zutiefst in diesen Menschen.
Das Streben „nach oben“ gehört zu den Grundbefindlichkeiten des Mensch-Seins und verbindet sich fast immer mit einem Streben, das ganz allgemein auf Sicherheit, auf „Macht“ ausgerichtet ist. Grundsätzlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand das eigene Können und persönlichen Einfluss engagiert einbringt. Das gehört sogar zur Entfaltung der Talente und zu einer recht verstandenen Selbstverwirklichung, in der man jenen Platz unter den Menschen einnimmt, der einem entspricht.
Hier geht es jedoch nicht um eine Rechtfertigung für den Gebrauch persönlicher Fähigkeiten (vgl. in übertragendem Sinn Mt 25, 14-30; Lk 19,11-27 – das Gleichnis vom anvertrauten Geld). Für Jesus besteht wahre Größe im Kind-Sein vor Gott – und in der Solidarität mit jenen, die „Kind“ sind. Kind-Sein heißt: sich bedürftig wissen, angewiesen sein, nicht viel gesellschaftlich Anerkanntes geben können, klein sein, leicht übersehen werden, vielleicht sogar deshalb am Rand zu stehen, schwach sein, einfach sein. Die Verheißung, dass in der Aufnahme eines solchen Kindes Jesus selbst aufgenommen wird, gilt dann neben diesen „wirklichen Kindern“ auch jenen „Großen“, die sich zum Kind-Sein bekehrt haben. Jeder Christ ist dazu berufen, vor Gott wie ein Kind zu sein. Ebenso ist er zur Aufnahme ganz besonders jener berufen, die ebenfalls „Kinder“ sind. In diesem Text bleibt der Gedanke an „Mündigkeit“ unberücksichtigt. Vielmehr ist die Unmündigkeit, das Klein-Sein, auch das gegenseitige Annehmen in diesem Schwach-Sein vor Gott aus christlicher Sicht primär.
Eine christliche Konfliktkultur baut auf einer gewissen Gegenseitigkeit auf. Konkrete Probleme werden oft durch eine Sicht bestimmt, die im anderen alles andere sieht als ein Kind. Es gilt daher, dieses Kind-Sein auch in „machtvoll“ auftretenden Christen zu erkennen und sie deshalb offen, herzlich und unkompliziert anzunehmen. Das wäre zudem ein Beitrag für eine unbefangene christliche Geschwisterlichkeit.
Gegenüber dem eigenen Urteil über andere sollte man stets ein Stück Skepsis haben. Niemand kennt sich selbst bis in seine tiefsten Abgründe, geschweige denn jemand anderen. Es ist weiser, nicht unterscheiden zu wollen, ob Jesus „jetzt“ in einem Menschen ist oder nicht. Im anderen mag nicht immer gerade Jesus sein, den ich aufnehme, aber er könnte es sein. Es ist auf jeden Fall besser, den anderen anzunehmen als (möglicherweise) Gott selbst in ihm zurückzuweisen.
Ein anderer Akzent, der des Dienens und der Hingabe als Zeichen der Größe (mit Jesus als bestem Beispiel), ist uns geläufiger. Dieser Stachel im Fleisch des Strebens „nach oben“ macht die christliche Gemeinschaft menschlicher und unkomplizierter als andere Milieus. Denn die Wertschätzung des Einzelnen wird durch das Vorbild und die Kraft der „Großen“ gestützt. Wer dient und dienen will, ist auf dem richtigen Weg. Noch deutlicher: Wer „Sklavendienste“ tut, ist in Wahrheit hochzuschätzen.
Wenngleich es hier um „Regeln für das Gemeindeleben“ (Mt 18) geht, sollte davon das eine oder andere Stück an Inspiration für christlich geprägte Arbeitsverhältnisse übrigbleiben. Dass sich dem sogar Management-Modelle anschließen (der Manager hat die Aufgabe, Befähiger der Mitarbeiter zu sein, und ihnen alles zu ihrem erfolgreichen Tun Nötige zu vermitteln), mag als Bekräftigung verstanden werden.
Konfliktkultur: Oberflächlichkeit - "Richtet nicht nach dem Augenschein"
„Urteilt nicht nach dem Augenschein, sondern urteilt gerecht!“ (Joh 7,24)
Evangelium:
Richtet nicht nach dem Augenschein (Joh 7,24)
Auch ohne Kenntnis der vorangegangenen Diskussion mit den Pharisäern über eine Heilung am Sabbat ist dieser Satz für sich allein verständlich. Was steckt da alles drinnen?
Jesus fordert die Pharisäer auf, doch einmal genau zu überlegen, was geschehen ist: nämlich Heilung! Gerade der Tag des Sabbats ist ein Zeichen des Bundes, der Geschichte Gottes mit den Menschen. Der Sinn des Sabbats ist es, das Heil Gottes gegenwärtig zu zeigen. Genau das geschieht durch Jesus, allerdings nicht nach den üblichen bzw. ausgedachten Regelungen, die den eigentlichen Sinn des Sabbats in den Hintergrund gedrängt hatten. Jesus wundert sich.
Da dieser Konflikt um den Sabbat immer wieder auftaucht, wird Jesus später ärgerlich und zorniger. Denn die Pharisäer sind nicht im Geringsten bereit, auch nur einen Millimeter von ihren festgefahrenen Anschauungen abzugehen. Sie bemühen sich nicht, die Dinge einmal von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten. Jesus fordert sie dazu vergeblich auf. Den Pharisäern genügt der Anblick der Fassade, um die sie sich sorgen. Das Innere des Hauses interessiert sie nicht wirklich. „Richtet nicht nach dem Augenschein“, das heißt: Es ist nicht so, wie es (für euch) scheint.
Im Sinn einer christlichen Konfliktkultur sollte man überlegen, ob der eigene Blickwinkel nicht zu eingeschränkt ist. Hat man sich bemüht, mit verschiedenen Gesichtspunkten ein Ereignis zu betrachten? Wurde bei der Beurteilung einer Situation der Versuch gemacht, Gott und seine Gerechtigkeit in die Überlegungen einzubeziehen? Ist etwas abzulehnen, weil es nicht ins Konzept passt?
Dass es Konzepte braucht, die einzuhalten sind, ist unbestreitbar. Sie müssen jedoch flexibel, offen, hinterfragbar und auf die Einzelsituation hin veränderbar sein.
Die Pharisäer machen im Sinn einer christlichen Konfliktkultur zwei weitere Fehler. Erstens wird aufgrund einer einzigen Differenz ein Mensch in seiner Gesamtheit abgelehnt. Der Dissens zu Jesus tritt so stark in den Vordergrund, dass viele Gemeinsamkeiten nicht mehr bemerkt werden. Von der Geschichte her ist offensichtlich, dass Jesus in der Pluralität der israelitischen Gesellschaft gerade den Pharisäern am nächsten gestanden ist. Die vielen Gespräche und Begegnungen zeigen, dass es zahlreiche Berührungspunkte gibt. Schließlich waren einzelne Pharisäer Anhänger Jesu und er war bei ihnen zu Gast (vgl. Lk 7,36; 13,31; Joh 3,1). Vielleicht war deshalb die Enttäuschung und die Empfindlichkeit zwischen Jesus und den Pharisäern so groß. Man hat nicht verstanden, warum es unüberwindbare Gegensätze gibt, wenn doch manches Grundlegende unbestritten ist.
Aber das liegt an dem zweiten, immer wieder zu Sprache gebrachten Fehler der Pharisäer: ihr mangelnder Blick für eine von Gott kommende Gerechtigkeit, die irdische Vorstellungen und Handlungskriterien übertrifft. Unter Menschen kommt es immer zu Konflikten, aber eine christliche Konfliktkultur weiß, dass alles Geschriebene, Gesagte, Festgelegte und Geplante vor Gott relativiert werden muss. Nur dann hat er eine Chance, dass in den von ihm angesprochenen Menschen Gerechtigkeit errichtet wird.
Im Sinn einer christlichen Konfliktkultur kann dieses „Richtet nicht nach dem Augenschein“ losgelöst von der beschriebenen Auseinandersetzung noch anders gewertet werden. Ereignisse sehen dann nicht nur „schlecht“ aus und sind es doch „gut“, sondern auch umgekehrt. Was augenscheinlich anziehend, gelungen und beeindruckend ist, kann eine Fassade sein, hinter der sich nichts Schönes befindet.
Eine Beurteilung von Situationen oder von Menschen darf nicht vorschnell geschehen. Die Erfahrung zeigt beides: Der wahre Wert kann verborgen sein und man lernt ihn erst kennen, wenn man eine unfreundliche Schale durchdrungen hat. Oder: Was am Anfang so begeisternd ist, erweist sich später als nichtig und hohl.
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass nicht unbedingt die Bekanntesten, Beliebtesten und Talentiertesten jene sind, die automatisch inneren Tiefgang haben. Manchmal wird Menschen auch dadurch Unrecht getan, weil sie höher eingeschätzt werden, als ihnen zukommt. Und damit fehlt ihnen vielleicht eine Chance zur Umkehr.
Was wirklich vor Gott Wert hat, mag sich eben nicht beim ersten Augenschein zeigen. Das redliche Leben ist unscheinbar und doch groß vor Gott. Die alltäglichen Bemühungen als Mitmensch zählen mehr als die Organisation großer Veranstaltungen und die Durchführung beeindruckender Projekte. Kleine Aufmerksamkeiten sind bedeutsamer als einzelne großartige Bezeugungen von Dank und Zuneigung. Die kleinen Gespräche und die aufmunternden Worte zwischendurch sind wichtiger als niveauvolle Diskussionen mit angesehenen Partnern. Der Kontakt mit einfachen Menschen ist vielleicht wesentlicher, als wenn angesehene Persönlichkeiten im Haus ein- und ausgehen. Eine christliche Konfliktkultur wird versuchen, den Dingen auf den Grund zu gehen.
Konfliktkultur: Verschwendung - Eine Sünderin salbt Jesus die Füße
„Die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer bei euch.“ (Joh 12,8)
Evangelium:
Die Begegnung Jesu mit der Sünderin (Mt 26,6-13, Mk 14,3-9, Lk 7,36-50, Joh 12,3-8)
Diese Situation wird im Evangelium in unterschiedlichen Zusammenhängen erzählt. Bei Lukas findet diese Begegnung im Haus eines Pharisäers in der Zeit von Jesu öffentlichem Wirken statt (und nur hier ist von einer „Sünderin“ die Rede). Bei Matthäus, Markus und Johannes ereignet sich dies in Bethanien am Vorabend des „letzten Abendmahls“.
Bei Lukas erregt sich der Pharisäer darüber, dass die Sünderin eine Sünderin ist und sich in seinem Haus um seinen Gast kümmert. Jesus weist jedoch auf die Aufmerksamkeit und Wohltat dieser Frau hin. Dass eine Sünderin aufmerksamer und gastfreundlicher als der Gastgeber ist, muss diesen beschämen – und hoffentlich zu einem Stück Selbsterkenntnis führen.
Jesus erklärt, dass Sünden auf der einen Seite durch Liebe auf einer anderen Seite vergeben werden. Von Umgekehrtem ist nicht die Rede. („Wenn ich etwas Gutes tue, kann ich mir die eine oder andere Sünde schon leisten.“: Das wäre unsinnig.)
Für eine christliche Konfliktkultur ist das ein Aufruf, in der Person des anderen stets den ganzen Menschen, und da vor allem seine guten Seiten zu sehen. Eine Abkapselung gegenüber jemandem, der Falsches getan hat oder noch tut, verbietet sich. Vielleicht ist jener sogar einem „Gläubigen“ an Freundlichkeit, Spontanität der Zuwendung und Aufmerksamkeit für die alltäglichen Bedürfnisse überlegen. Vielleicht ist der Pharisäer – und mancher unter uns – so scharfsinnig und an einem klugen Gespräch interessiert, dass er und wir das Naheliegende übersehen bzw. gar nicht verstehen.
In positivem Sinn kann mit einiger Phantasie eine Anregung für eine Sitzungskultur entnommen werden: die Begrüßung, das Willkommenheißen der Anwesenden, eine kleine Aufmerksamkeit sind unter Umständen vor Gott wichtiger als der Inhalt der Besprechung selbst, was deren sachliche Bedeutung nicht schmälert…
Bei Matthäus, Markus und Johannes regen sich Apostel über die Verschwendung auf (bei Matthäus sind es „die Jünger“, bei Markus „einige“, bei Johannes nur „Judas“). Man hätte das Geld für die Armen sinnvoller verwenden können. Aber Jesus ist kein „Moralist“. Er fordert keine ausschließliche Verwendung des Geldes für die Linderung von Not, die niemals vollends beseitigt werden kann. Das ist eine Erleichterung, da man ansonsten ununterbrochen aufgefordert wäre, über jeden Cent nachzudenken und sich letztendlich vor Gott zur Rechenschaft gezogen zu wissen. Das wäre kleinlich, vor allem, wenn man sowieso immer wieder finanzielle und andere Beiträge als Hilfe für Bedürftige leistet. Jesus bricht eine Lanze für das Verschwenderische der Liebe. Liebe ist ein Fest. Und ein Fest muss gefeiert werden. Knausrigkeit ist hier fehl am Platz.
Im Sinn einer christlichen Konfliktkultur ist die Verschiedenheit der Aufgaben in unserer Kirche zu beachten. Sie können nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sowohl für die Caritas als auch für die künstlerische Gestaltung von Gottesdiensträumen soll Geld Verwendung finden, ohne dass jemand dem anderen Zweck seine Berechtigung absprechen oder bis auf den Cent genau die Notwendigkeit des Aufwandes kontrollieren müsste. Sicher ist zwischen wichtigen und unwichtigen Aufgaben zu unterscheiden. Und viele wichtige Bereiche bräuchten immer mehr finanzielle Unterstützung, als sie erhalten.
Das Maß des Evangeliums zeigt den Vorrang jener Dinge, in denen mehr Liebe ist. Jesus geht es nicht um eine wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnung, sondern um das Beispiel der Liebe, das diese Frau tatsächlich für die ganze Welt gegeben hat.
Um nicht beim Geld stehen zu bleiben, soll auf etwas hingewiesen werden, mit dem ebenso umzugehen ist: auf die Zeit, die einerseits den notwendigen Tätigkeiten gewidmet sein muss, andererseits erst im verschwenderischen Freiraum der Liebe ihre Erfüllung findet. Aktion und Kontemplation gehören zusammen, Rastlosigkeit oder ausschließliche Beschaulichkeit sind keine Tugenden. Arbeit und Muße, Pflichterfüllung und Freude müssen gemeinsam Raum in einer christlichen Lebensgestaltung haben. Wie weit orientieren wir uns daran in unseren kirchlichen Engagements?
Konfliktkultur: Geschäftigkeit - Maria und Martha
„Der Herr antwortete: Martha, Martha du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eins ist notwendig.“ (Lk 10,38-42; Joh 12,1-2)
Evangelium:
Maria und Martha (Lk 10, 38-42; Joh 12, 1-2
Die zuhörende Maria ist keine Hilfe für die fürsorgliche und fleißige Martha. Ihr scheinbar passives Verhalten ärgert die aktive Martha, denn sie fühlt sich im Stich gelassen. Jesus bezweifelt Marthas Gefühle nicht, die „objektiv richtig“ sind, aber er löst den Konflikt auf einer anderen Ebene mit der Frage: „Was ist wirklich wichtig?“. Kein Zweifel an der Notwendigkeit von Marthas Tun, aber diesem gebührt jetzt kein Vorrang. Die Gastfreundschaft verlangt, dass alles rund um den Gast funktionieren soll. Doch zuerst kommt der Gast selbst.
Um dieses vorrangige Hören auf Jesus sollte es auch in der Welt und ich der Kirche von heute mit all ihrer notwendigen Geschäftigkeit gehen. Das Zuhören und das Bei-ihm-Sein sind wichtiger und „besser“. Alles andere ist nachgeordnet.
Hier soll nicht Aktion und Kontemplation, die Tat und das (meditative) Mit-Jesus-Sein gegeneinander ausgespielt werden. (Alles zu seiner Zeit.) Aber von vorhinein ist das Mit-Jesus-Sein wesentlicher.
Ich möchte einen Gedanken anschließen, der in den Bereich einer Familienkultur gehört. Die Familie ist der ausgeprägteste Ort gegenseitiger Fürsorge und des gemeinsamen Gestaltens der kleinen Lebenswelt. An erster Stelle stehen die Personen. Die gemeinsame Haushaltsführung, die Sorge um das Funktionieren und Organisieren des Alltags, die Ordnung im Kinderzimmer, die 1000 Dinge rundherum, so notwendig sie sind, sie kommen „danach“.
Das Daheim-Sein bei Menschen ist wichtiger als in Räumen, als das Funktionieren des Alltags. Mit dem Vorrang der Person vor allen Aktivitäten wird nicht dem Nichtstun das Wort geredet, sondern einer Atmosphäre, in der es spürbar um den Menschen geht. Das ist Geborgenheit und Heimat.
Es sind weitere Blickwinkel auf diese Bibelstelle denkbar, vor allem in Richtung auf unsere Gemeinden und Gruppierungen. Schließlich entlasten Jesu Worte davon, ständig etwas tun zu müssen. Man darf Zeit haben für Menschen, selbst in der größten Geschäftigkeit, man soll es sogar. Zwar kennt jeder die innere Anspannung, wenn man das Tun notwendiger Dinge aufschieben muss, weil man durch einen Menschen oder ein Ereignis gehindert wird… Eine christliche Konfliktkultur steht dann vor der Herausforderung, in innerer Freiheit die gegenwärtige Stunde Gott zu schenken (sie ihm „zu opfern“). So beginnt eine von Gott geschenkte Souveränität über die Zeit, die als Gnade und als innerer Friede geschenkt wird. Aber das ist ein weiter Weg.