„Er antwortete: Gebt acht, dass man euch nicht irreführt! Denn viele werden unter meinem Namen auftreten und sagen: Ich bin es!, und: Die Zeit ist da. – Lauft ihnen nicht nach!“ (Lk 21,8)
Die kurzen Warnungen vor Irrlehren weisen bei den Evangelisten unterschiedliche Nuancen auf, die ihrer Zielgruppe entsprechen.
Bei Markus berufen sich die Irrlehrer auf ein persönliches Sendungsbewusstsein im Namen Gottes („ich bin es“), was dem Gottesnamen Jahwe entspricht.
Matthäus nimmt einen Gedanken in den Versen 23-24 nochmals auf und erweitert ihn. Hier gibt es Menschen, die jemanden als Messias bzw. Prophet bezeichnen. Wer diese Hinweisenden sind, geht nicht genauer hervor. Das können alle sein: Christen, Andersgläubige, Medien usw., die eine solche Person überall zu sehen meinen. Es wird von beeindruckenden Zeichen und Wundern durch diesen falschen Messias und Propheten berichtet. Natürlich weckt das Bewunderung und lässt Fans gewinnen. Das soll dann eine solche Begeisterung erzeugen, dass sogar Christen von dort her eine Lebensorientierung erwarten, die allerdings irreführend ist. – Interessant ist, dass sich kein Hinweis auf die Botschaft dieser Irrlehren bezieht. Wahrscheinlich ist sie auf den ersten Blick beeindruckend, beim genaueren, nüchternen und wachsamen Hinsehen aber nicht mehr. Oder doch? – Vermutlich sind beim Durchdenken die Widersprüche zu Jesus erkennbar, was allerdings die Bereitschaft, die Fähigkeit und die Möglichkeit dafür voraussetzt.
Bei Lukas treten die Irrlehrer im Namen Jesu auf und berufen sich auf Gott. Sogar der erste Satz der öffentlichen Verkündigung Jesu wird in den Mund genommen: „Die Zeit ist da“ (vgl. Mk 1,15).
Wen rüttelt ein solcher Predigtanfang nicht auf? Die Zeit ist da. Welche Zeit und woran ist sie zu erkennen?
Die seit dem 2. Vatikanischen Konzil berühmten „Zeichen der Zeit“ (Gaudium et Spes 4, 11; Presbyterium Ordinis 9, Apostolicam Actuositatem 14; Unitatis Redintegratio 4) sind von Modeerscheinungen zu unterscheiden. Dazu ist die Gabe der Unterscheidung der Geister (vgl. 1 Kor 10,12) mit einem vom ganzen Evangelium geleiteten Blick auf die Gegenwart nötig.
Nicht jede Zeiterscheinung ist ein theologisch relevantes und auf den Plan Gottes zurückzuführendes Zeichen der Zeit. Auch bei einer Beobachtung der allgemeinen Gesellschaftsentwicklung ist zu hinterfragen, ob hier Zeichen sichtbar werden, die im Sinn der fortschreitenden Offenbarung Gottes etwas sagen oder ob hier (nur) das Material betrachtet wird, aus dem heutige Lebens- und Weltgestaltung vorrangig gebaut wird. Letzteres kann nicht genug beachtet werden. Jedoch das christliche Handeln muss einer dazwischenliegenden Deutung im Sinn des Evangeliums und somit Kriterien des Glaubens folgen, die über die Schlussfolgerungen der Soziologie hinausgehen.
Unterschiedliche Schlüsse von Christen sollen einander helfen, gemeinsam zu tiefer Erkenntnis zu gelangen. Die Ungleichzeitigkeit der Gegenwart kann sogar heißen, dass ein Zeichen der Zeit von wirklicher lokaler Bedeutung ist; anderswo jedoch nicht, weil die Uhren anders gehen. Eine Vereinheitlichung ist nicht angebracht, wohl aber eine Pluralität, die sich in einer großen Gemeinsamkeit zutiefst verbunden weiß und in ihrer Vielfalt im Innersten stets zur Einheit strebt.
Die Zeit ist da – das kann auch so gemeint sein: Es ist genug, es reicht, jetzt ist der Tropfen gefallen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Wenn Jesus von der Zeit spricht, die erfüllt ist (Mk 1,15), von der heutigen Erfüllung der Verheißungen (Lk 4,21), von seiner Stunde (Joh 17,1), meint er etwas anderes; die Zeit des Heils, die Stunde der Verherrlichung, das Offenbar-Werden derer, die von Gott gesandt sind.
Damit zeichnet sich ein Kriterium der Unterscheidung zwischen wahrer und irreführender Verkündigung ab. Die Haltung „es reicht“ mag menschlich verständlich sein, ist aber – außer in prophetischer Rede (Wer ist ein Prophet?) – ein falscher Ansatzpunkt für christliches Handeln, für christliche Reformen. Die Reaktion auf eine solche Motivation ist ja stark von Gereiztheit getragen, die kaum mit dem Heiligen Geist in Einklang steht. Die wahre prophetische Begabung eines Mitglieds des Volkes Gottes zeigt sich, wenn in seiner Zeitanalyse ein Weg für das Heil sichtbarer wird und die entsprechenden Früchte dominieren (Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung, Selbstlosigkeit, Engagement, Rücksicht usw. – vgl. Gal 5,22-23).
Eine christliche Konfliktkultur muss bemüht sein, diese Unterscheidungen zu treffen, und in aller Wahrung der Höflichkeit und im Suchen des Gemeinsamen Irriges zu erkennen und dem nicht zu folgen. Auffallend ist, dass die Irrlehrer an dieser Stelle nicht ausdrücklich verurteilt werden. Zwar ist die Beschreibung des Matthäus „falsche Propheten“ eindeutig, aber dieses Problem steht im konkreten Gemeindebezug der neutestamentlichen Briefliteratur mehr im Vordergrund. Ein dortiges Weiterlesen ist daher zu empfehlen (z.B. Kol 2,8-23; 2 Petr 2,1-22; Jud 3-16; 2 Tim 2,14-26; Tit 1,10-16; 1 Joh 2,18-27; 2 Joh 7-11).
Konfliktkultur: Verführung - Wehe, wenn jemand einen zum Bösen verführt!
„Er sagte zu seinen Jüngern: Es ist unvermeidlich, dass Verführungen kommen. Aber wehe dem, der sie verschuldet.“ (Lk 17,1)
Evangelium:
Warnung vor Verführung (Mt 18,6-7; Mk 9,42; Lk 17,1-2)
Hier ist (vom griechischen Text her) von einem „Skandal“ die Rede. Ein Skandal ist wie ein Stein, über den man stolpert, über den man hinwegstürzt und über den man zu Fall kommt. Ein Skandal bringt jemanden zum „Fallen“.
Der in dieser Bibelstelle angesprochene Skandal wird durch einen Abfall vom Glauben hervorgerufen. Ein Abfall vom Glauben liegt in jedem Tun des Bösen, eigentlich schon in jeder Verführung zum Bösen, denn das ist ein Handeln gegen den Willen Gottes.
Jesus bezeichnet die Gläubigen als die „Kleinen“, die sich vor Gott bedürftig und zum Wachstum berufen wissen. Sie müssen geschützt werden, weil ihre Abwehrkräfte noch schwach sind. Sie sind als Mitmenschen in einer nicht immer nach dem Evangelium lebenden Umgebung verwundbar und beeinflussbar. Man kann ihnen sogar so stark und raffiniert zusetzen, dass sie vom Glauben ablassen.
Warum muss es diese Verführung zum Bösen geben? Von Gott her ist es kein „Muss“, denn er verführt nicht. Er stellt die Menschen nicht auf die Probe, aber die Geschichte zwischen Gott und der Welt ist getrübt von der Ablehnung Gottes durch die Menschen. Das zieht Kreise, errichtet eine Atmosphäre der Entfremdung, baut Strukturen der Sünde auf usw. Darin ist der Mensch gottes- und menschenfeindlichen Einflüssen ausgesetzt. Dem kann er nicht immer widerstehen. Nicht alle sind Helden, nicht alle sind so tief im Glauben verwurzelt, dass sie standhalten könnten.
Jesus klagt nicht Umstände oder Strukturen an, sondern konkrete Menschen, die das Böse fördern, in welchen Situationen und Positionen auch immer. Kein Kollektiv entschuldigt die Verantwortung des Einzelnen. „Mildernde Umstände“ beim Tun des Bösen bleiben Gott überlassen. Sie entziehen sich menschlicher Beurteilung, sosehr man sich um deren angemessene Beachtung bemühen sollte.
Es ist eine Verführung durch „die Welt“, die im Gegensatz zu den Grundregeln des Lebens in der Gemeinde (Mt 18) denkt und handelt. Diese „Welt“ existiert auch in der Gemeinschaft der Gläubigen. Das ist keine bloß lästige und ärgerliche Gegebenheit auf dem Weg der Wahrheit und der Vollkommenheit, sondern eine Grundbefindlichkeit der Kirche als Kirche der Sünder, die allerdings zur Heilung und zur Heiligkeit berufen ist.
Jesus unterscheidet zwischen Verführtem und Verführer. Der Verführte/Verirrte kann mit der Anteilnahme, den Bemühungen und der Vergebung der Mitchristen rechnen, die ihm zum Guten helfen wollen (vgl. Mt 18,12-35; Lk 15,4-7). Der Verführer hingegen, der sich in den Dienst einer bösen Sache gestellt hat, wird die Tragweite seines Tuns zu spüren bekommen. Als einer, der nicht liebt, ist er eigentlich „tot“. Darin schließt das in der Heiligen Schrift beschriebene Bild vom Mühlstein um den Hals und das Versenken im Meer an. Es wäre besser, das irdische Leben zu verlieren als das ewige (Mk 8,35-36; Mt 16,25-26; Lk 9,24-25). Es wäre besser, unter persönlichen Nachteilen das Böse abzuwehren als ihm wegen kurzfristiger Vorteile nachzugeben (vgl. Mt 18,8-9; Mk 9,47; Mt 25, 46),
Im Sinn einer christlichen Konfliktkultur muss gewarnt werden. Man möge Acht geben, nicht selbst – unbewusst, ungewollt – andere im Glauben zu verwirren, sie zum Stolpern und Fallen zu bringen, den Glauben mies zu machen oder anderes an seine Stelle zu setzen. Es genügt schon die Weitergabe von Lieblosigkeit, um andere durch abwertende Worte und durch das schlechte Beispiel von einem Stück Glaubensbeziehung abzubringen. Der Schlagfertigkeit oder dem Reizvollen gebührt kein Applaus, wenn dies nicht mit der Liebe in Zusammenhang steht.
Die zweite, deutlichere Warnung ergeht an jene, die bereits bei der Verbreitung von Bösem mittun, wobei die persönliche Verantwortung unterschiedlich sein kann. Das Rädchen im System ist anders verantwortlich als jener, der sich mit seiner ganzen Persönlichkeit einsetzt. Trotzdem gilt für beide: Wehe! Sie sind vor Gott verantwortlich.
Auch eine christliche Konfliktkultur trägt Verantwortung, weil sie dies in Erinnerung rufen muss (vgl. Mt 18,15-20) und die Dinge niemals einfach laufen lassen darf. Jeder Mensch ist zu kostbar, als das man sich mit seinen Lebensirrtümern achselzuckend abfinden könnte. Es gilt, allen Menschen das Evangelium zu verkünden.
Konfliktkultur: Schlechter Rat - "Weiche Satan..."
„Weg mit dir, Satan geh mir aus den Augen! Du willst mich zu Fall bringen; denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was Menschen wollen.“ (Mt 16,23b)
Evangelium:
Jesus sagt zu Petrus „Satan“ (Mt 16,21-23, Mk 8,31-33)
Petrus kriegt es kalt-warm.
Unmittelbar zuvor erzählen die Evangelisten von der Petrus übertragenen Vorrangstellung (Mt 16,18). Petrus hat erkannt, dass Jesus der Messias ist (Mt 16,16; Mk 8,29; Lk 9,20). Die Worte und Zeichen Jesu waren für ihn der überwältigende Beweis für die einzigartige Sendung Jesu aus Gott. Das ist nun das Fundament, auf dem Jesus die Jünger tiefer und umfassender in sein Geheimnis einweihen will, wozu untrennbar das Kreuz gehört. Die Konflikte mit den Pharisäern können nicht beigelegt werden, nicht einmal durch den Sohn Gottes. Die Feindschaft wird zunächst einen Triumph über die Offenbarung feiern. Das ist kaum begreifbar. Petrus versteht nicht, dass Gott ohnmächtig erscheinen kann, dass Jesus einen schmachvollen Tod erleiden wird. Ehrlich gesagt, das ist wirklich nicht zu verstehen – aber Realität. Gott lässt Grenzen gegenüber seinem Einfluss zu bzw. er verlangt, dass man auf ihn trotz Scheitern gegen alle Hoffnung vertrauensvoll hofft. Petrus ist mit seiner Sorge und mit seinem Rat gegenüber Jesus gut zu verstehen. Er will das Beste für seinen Freund und Meister. Das Kreuz ist darin unvorstellbar.
Es ist absurd, dass diese Worte der Freundschaft nicht im Sinn Gottes sind. Alle Umstände sprechen für die Berechtigung des Rates des Petrus. Dennoch wehrt Jesus hart ab. Jesus muss ein einseitiges Bild zurückweisen, das im Leben des Liebenden das Kreuz nicht wahrhaben will. Es gehört dazu, auch für die ihm Nachfolgenden (vgl. die anschließenden Aufforderungen zur Nachfolge, Mt 16,24-25; Mk 8,34-35; Lk 9,23-24).
Das Engagement für die Liebe beinhaltet das Risiko des Kreuzes. In der Nachfolge Christi mag man sich deshalb hundertfach als Mitleidender und Mitgekreuzigter erfahren (vgl. Röm 6,6; Gal 2,19; Gal 5,24; Gal 6,14). Gottes Wege gehen auch durch die Dunkelheit, durch Abgründe, durch die Schattenseiten der Welt. Petrus kann das noch nicht erkennen. Sein Christus-Bild ist halb. Entgegen seinen Wunschvorstellungen wird nicht die harmonische Entfaltung der Persönlichkeit, der letztendlich strahlende, für alle erkennbare Sieg der Liebe, sowie Erfolg und Ansehen verheißen. (Angesichts der Weltgeschichte wäre dies für die Verlierer der Jahrhunderte Zynismus.) Sondern es geht um die Annahme des ganzen Christus, des ganzen Evangeliums. Das Ausblenden einer Seite, das bloße Wahrnehmen eines Wunschbildes ist eigentlich vom Bösen. Denn es trübt den realistisch-kritischen Blick auf eine Welt voller Ränder und Schatten. Dann sieht man wirklich nur die im Lichte, denn im Dunkeln sieht man eben nicht bzw. man sieht sie nicht wirklich (Bert Brecht).
Eine christliche Konfliktkultur lebt mit dem Skandal des Leides und des Todes von Unschuldigen. Das ist nicht gottgewollt. Was Gott sehr wohl will, ist die Solidarisierung mit diesen „Besiegten“. Hier kann sich niemand hinter ein halbiertes Bild des Glaubens zurückziehen, auch nicht im Namen psychologischer Erkenntnisse einer humanmenschlichen Persönlichkeitsentfaltung. Diese ist natürlich zu befürworten, wobei jede falsch verstandene Leidensmystik, jede einseitige „Theologie des Opfers“ abzulehnen ist. Aber das kann kein Grund für ein Ausweichen vor dem Auftrag Gottes sein. Der Preis der Anpassung an – verständliche – Harmoniewünsche darf hier nicht gezahlt werden. Das Vorziehen der lichten Seiten des Lebens darf die Wahrnehmung der Realität des Dunkeln nicht verdrängen. Eine christliche Konfliktkultur muss tiefer sehen und schärfer auf die Stimme Gottes hören als es rein menschlich angenehm erscheint.
Konfliktkultur: Zwischen Macht und Dienst - Die Versuchungen Jesu
„Dort blieb Jesus vierzig Tage lang und wurde vom Satan in Versuchung geführt. Er lebte bei den wilden Tieren, und die Engel dienten ihm.“ (Mk 1,13)
Evangelium:
Die Versuchung Jesu (Mt 4,1-11, Mk 1,12-13, Lk 4,1-13)
Die Evangelien berichten, wie der Geist Gottes auf Jesus während seiner Taufe herabkommt (Mt 3,13-17; Mk 1,9-11; Lk 3,21-22). Danach wird er vom Teufel in Versuchung geführt. Dieser zeitliche Ablauf ist wesentlich. Er bedeutet, dass der empfangene Geist Versuchungen nicht verhindert, jedoch mag er Kraft und Inspiration geben, diese zu durchschauen und ihnen zu widerstehen.
Von einer anderen Seite betrachtet heißt das, dass eine Taufe bzw. der Empfang des Geistes nicht die Bedingung – oder die Garantie – darstellt, dass jemand gegenüber Verführungen immun wird.
Christliches Leben ist ein Leben mit Irritierungen, die vielleicht dann kommen, wenn man meint, davor gefeit zu sein, etwa nach einer „geistlichen Erfahrung“ oder nachdem etwas Größeres gelungen ist. Darauf macht der Zeitpunkt der Versuchung Jesu aufmerksam. Die Raffinesse des Teufels ist auf ihre Art großartig-abstoßend. Er knüpft an menschliche Grundbedürfnisse, an Frömmigkeit sowie an die Bewunderung der Schöpfung und menschlicher Kulturleistungen an. Alles sieht ja ganz gut aus und niemandem würde ein Schaden zugefügt werden. Die Dinge scheinen harmlos zu sein bzw. sie wären leicht zu verharmlosen, wenn irgendwo doch ein Haken entdeckt wird. Es geht nur um ein bisschen mehr Annehmlichkeit, um einen vermeintlichen Ernstfall von Gottvertrauen und um die Verfügungsmöglichkeit über das Schöne in dieser Welt – zu einem Preis, dessen eigentliche Höhe nicht genannt wird. (Was heißt es konkret, den Teufel anzubeten?) Aber wer würde das hinterfragen, der unbedingt von dem Gezeigten fasziniert sein muss?
Im Einzelnen stellt sich diese Bibelstelle unter dem Gesichtspunkt einer christlichen Konfliktkultur so dar:
Nach dem langen Verzicht auf Nahrung bekommt Jesus Hunger. Er hat ein Grundbedürfnis, das gestillt werden muss. Er bewahrt Ruhe. Der Hunger beherrscht ihn nicht, er hat sich unter Kontrolle. Denn wäre sein Begehren nach Essen jetzt stärker als sein Wille bzw. sein Wissen um seine Möglichkeiten, würde er tatsächlich alles Erdenkbare versuchen, um zu Nahrung zu kommen. Vielleicht könnte er wirklich Steine in Brot verwandeln, aber dann würde er sich Dingen widmen, die nicht seiner Sendung entsprechen. Es geht nicht um das Nächstliegende, Vordergründige, sondern um die Botschaft Gottes, von der nichts ablenken darf.
Hier wird im Sinne einer christlichen Konfliktkultur der rechte Gebrauch der eigenen Möglichkeiten angesprochen, auch angesichts persönlicher Grundbedürfnisse (vgl. Mt 6,25-34; Lk 12,22-31: von der falschen und rechten Sorge). Nach dem Beispiel Jesu kommt zuerst das Wort Gottes, danach die Sorge um die Notwendigkeit der kleinen Lebenswelt, was weder einen Nachrang der eigenen Person hinter etwas „Fremdem“, noch einen Widerspruch bedeutet. Denn das Leben mit all seinen großen und kleinen Seiten ist am besten bei Gott aufgehoben, der alles Nötige – und sogar mehr als das – geben wird (vgl. Mt 7,8: Joh 16,24: „bittet und ihr werdet empfangen“).
In der zweiten Versuchung (nach Matthäus) wird Jesus eingeredet, ein verrücktes Tun wäre ungefährlich, weil Gott seine behütende Begleitung auf jeden Fall zugesagt hat. Das ist eine glatte, aber verschleierte Lüge, besser gesagt: eine Halbwahrheit. Denn der Versucher argumentiert geschickt. Er führt Worte der Heiligen Schrift an. (Er kann auch heute suggerieren: wenn du das und das tust, wird dir nichts geschehen, weil… – und dann kommt schon irgendein Argument). Aber ein Probespringen hat nichts mit der Verkündung der Frohen Botschaft zu tun, nichts mit dem Aufbau des Reiches Gottes. Ein solches Zeichen ist unwichtig, „heilsunwichtig“ und überflüssig. Es bietet nur ein medienwirksames Schauspiel für einen Star, für eine Publikumswette oder für die Verkaufszahlen bzw. Quoten eines Mediums.
Die Argumente werden von Jesus durch ein umfassendes, tieferes Wissen von Gott abgewehrt. Er weiß Texte des Vertrauens (der Versucher zitiert einen Psalm) von einer konkret ganz anderen Situation zu unterscheiden. Gott ist vertrauenswürdig, aber er ist kein Partner für Spielchen.
Im Sinn einer christlichen Konfliktkultur sind Aufträge oder Anregungen zu prüfen: Sind sie einseitig? Verdrehen sie mit gekonnten Worten den Willen Gottes? Sind sie suggestiv oder unnötig? Geht es um ein Spektakel oder um ein Zeichen der Liebe?
Die dritte Versuchung ist gewaltig. Wer möchte nicht zumindest ein bisschen herrschen, Durchsetzungsvermögen haben, Macht ausüben, in einer gesicherten und unanfechtbaren Position sein? Doch hier ist Jesu Absage am radikalsten. Das Streben nach Macht um der Macht willen widerspricht seiner Botschaft, die das Dienen bevorzugt (z.B. Mk 10,45; Mt 20,28; Lk 22,26; Mk 10,43 u.a.m.), am deutlichsten. In diese Zurückweisung sind alle Mittel zur Macht inbegriffen. Eine christliche Konfliktkultur steht da vor einer schweren Aufgabe. Deutliche und versteckte, bewusste und unbewusste Machtansprüche sind in der Welt und in der Kirche allgegenwärtig. (Auch ein Dienst kann im Sinn von Machtausübung ausgeführt werden.)
Selten können Machtansprüche so enttarnt werden, wie es Jesus gelingt. Die entscheidende Frage, die sich jeder stellen muss, ist: Was steht in meinem Streben an vorderster Stelle? Welchen Raum nimmt die Liebe ein? Und man kann den Hinweis Jesu, das „Niederwerfen vor Gott“ ruhig wörtlich nehmen. Wieviel Zeit nehme ich mir für die Anbetung Gottes, besonders wenn ich in der Position bin, in der ich tatsächlich Einfluss und Macht habe?
Aber das alles ist keine Garantie, Versuchungen abwehren zu können. Die gibt es nicht. Nicht einmal Jesus blieb dauerhaft davon verschont. Die Evangelien berichten, dass er „eine gewisse Zeit“ Ruhe haben sollte. Eine Überwindung des Bösen „ein für allemal“ ist eine Illusion.
Das Leben fordert ständig Entscheidungen zwischen Gut und Böse, die selten als solche bewusst werden. Die Grundhaltung eines Menschen übernimmt im Alltag die Orientierung für jegliches Handeln. So gilt es, diese immer wieder zu überprüfen und zu pflegen (Gewissenserforschung und Gewissensbildung). Falsche Selbstsicherheit ist niemals angebracht, sondern Wachsamkeit (vgl. z.B. Mt 24,43; Lk 12,39) und Klugheit.
Konfliktkultur: Zwischen Freundschaft und Feigheit - Die Verleugnung durch Petrus
„Da wandte sich der Herr um und blickte Petrus an. Und Petrus erinnerte sich an das, was der Herr zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ (Lk 22,61)
Evangelium:
Verleugnung durch Petrus (Mt 26,69-75, Mk 14,66-72, Lk 22,55-62, Joh 18,15-18.25-27)
Als Petrus erkennt, dass er Jesus verleugnet hat, beginnt er zu weinen. (Vielsagend ist der kleine Einschub von Lukas, dass Petrus sein Tun durch einen Blick Jesu auf sich erkennt.) Er schämt sich seiner Feigheit, die ganz im Gegensatz zu seiner bisherigen Treue zu Jesus steht. Trotzdem ist und bleibt er der Fels, auf dem die Kirche gebaut werden soll (Mt 16,18).
Es gibt diesen Konflikt infolge einer Untreue gegenüber Jesus – und niemand ist davor gefeit. Vielleicht ist es sogar gut, die eigene Schwachheit einmal zu durchschauen, um sich seiner selbst nie zu sicher zu sein. Seine Kraft schöpft der Christ nicht aus sich selbst, sondern empfängt sie von Gott.
Es ist leicht, hier über Petrus ein Urteil zu haben: Man sollte es aber differenzierter sehen. Immerhin beweist er Verbundenheit und Anhänglichkeit, indem er möglichst nahe zu Jesus will. Das nützt nichts. Vermutlich möchte er etwas Näheres über Jesu Schicksal herausfinden. Es ist nicht in seinem Plan, sich jetzt zu Jesus zu bekennen und Zeugnis abzulegen. Verunsicherung und Angst in einer feindseligen Umgebung sind größer als sein Mut. Es wäre – ehrlich gesagt – nutzlos, sich hier an dieser Stelle zu Jesus zu bekennen und damit womöglich selbst nur verhaftet und getötet zu werden. Das war nicht die Absicht des Petrus – nicht jetzt –, und deshalb ist er auf die Situation nicht gefasst.
Petrus wird angesprochen, ob er zu Jesus gehört, und er reagiert („diplomatisch“), so dass er seinen Plan, Näheres über das weitere Schicksal Jesu herauszufinden, nicht gefährdet. Beim zweiten Krähen des Hahnes erkennt er, dass anderes den Vorrang gehabt hätte; das Bekenntnis zu Jesus, so wie er es sich früher einmal vorgenommen hatte (Lk 22,33, Mk 14,29, Mt 26,33-35).
Im Sinn einer christlichen Konfliktkultur müssen wir mit der eigenen Schwachheit, ja Untreue rechnen. Es kann durchaus ein gutes Anliegen sein, das uns im entscheidenden Moment von noch Wesentlicherem ablenkt. Dann ist Selbsterkenntnis und Reue nötig, nicht das Beharren auf der Verständlichkeit unseres Handelns oder die Berücksichtigung von Entschuldigungsfaktoren. In der Ankündigung der Verleugnung durch Petrus (Mt 26,34; Lk 22,34; Joh 13,38) verlangt Jesus keinen Heroismus, aber er weist auf die Grenze des Apostels und von jedem von uns hin. In diesem Bewusstsein soll ein Engagement für Jesus nicht zu dick aufgetragen und von sich zu überzeugt sein. Die Möglichkeit der Schwäche (einer Sünde) in unvorhergesehenen Situationen ist immer da. Das gilt für alle Mitglieder der Kirche, wo auch immer sie stehen.
Konfliktkultur: Zwischen Loyalität ind Protest - Die Steuerfrage
„Sag uns also: Ist es nach deiner Meinung erlaubt, dem Kaiser Steuern zu zahlen, oder nicht?“ (Mt 22,17)
Jesus geht mit Geld unbefangen um. Er sieht die Notwendigkeiten einer finanziellen Grundlage. Es gibt eine gemeinsame Kassa (die Judas Iskariot verwaltet: Joh 12,6) und es gibt eine Reihe von Wohltätern und Unterstützern. Von diesem Geld wurden wohl die gemeinsamen Ausgaben bestritten bzw. wurde den Armen gegeben (Joh 12,5). In der Begegnung mit Maria, die Jesus in ihrem Haus in Betanien verschwenderisch mit einer teuren Salbe die Füße reinigt (Joh 12,1-11), zeigt Jesus, dass die Liebe Vorrang vor dem Finanziellen hat. Es fällt auf, dass Jesus oft von Geld bzw. vom Vermögen spricht. Das ist ein Thema, das die Leute beschäftigt, und er geht auf deren Lebenswirklichkeit ein. Ihn selbst ereifert das Thema nicht. In der Beobachtung der Menschen, die im Tempel ein Opfer bringen, betrachtet er die Höhe des Geldopfers in Relation zu den Möglichkeiten des jeweiligen Menschen und weiß daher die Haltung höher zu schätzen als die gespendete Geldsumme (Mk 12,41-44; Lk 21,1-4).
Geld ist für Jesus etwas, das zum Leben in der Gesellschaft dazugehört, an das man aber sein Herz nicht hängen soll. Von einer Geringschätzung ist nirgends die Rede. Geld hat seinen Wert, auch wenn es anderem untergeordnet ist, auch wenn es vor allem auf die Haltung des Umgangs damit ankommt.
Ganz in diesem Sinn reagiert Jesus auf die Fragen, wie er zur Tempelsteuer und zur kaiserlichen Steuer steht. Dieses für die Menschen in ihrem Alltag interessante Thema berührt Jesus innerlich nicht. Sinngemäß müsste man seine Antwort so verstehen: Jeder soll genug Geld zur Erfüllung seiner Aufgaben (Familienerhaltung) und zur Einnahme einer gesellschaftlichen Rolle (Anteil am Gemeinwohl) erhalten. Es ist selbstverständlich, dass der Staat finanzielle Mittel für seine öffentlichen Aufgaben braucht. Jesus akzeptiert das, ohne sich besondere Gedanken über möglichen Missbrauch, über Verschwendung oder über falsche Zwecke zu machen. Das ist nirgendwo auszuschließen. Was die Römer betrifft, so wurde deren unterdrückendes Regime finanziert, allerdings auch deren Bauten wie Straßen, Brücken, Häfen, Städte, die Sicherung der Handelswege usw.
Dass der Tempel zu seiner Erhaltung bzw. zur Bezahlung der Angestellten u.ä.m. ebenfalls Geld braucht, ist auch klar. Jesus bezahlt die Tempelsteuer bewusst, indem er sich dieser Vorschrift unterordnet, die ihn im tiefsten Sinn gar nicht betreffen würde. Er akzeptiert sie einerseits, andererseits zeigt er, wie sehr er darüber steht. Die wunderbare Herkunft der Münze, mit der er zahlt, mag ein Hinweis dafür sein, dass man das für solche Zwecke nötige Geld haben soll, ohne Entbehrung zu leiden. Darum bemüht sich heute das ausdifferenzierte Steuer- und Abgabenwesen des Staates bzw. der Kirche. Diese Systeme sind vielfach sozial abgefedert, müssen jedoch ständig überprüft, neuen Gegebenheiten angepasst und dementsprechend verbessert werden.
Eine christliche Konfliktkultur wird sich – angeregt durch das Evangelium – jeglicher Streitereien um‘s Geld möglichst enthalten. Es ist eine Pflicht, seinen Beitrag zu leisten, auch wenn nicht immer das, was ich mir vorstelle, damit geschehen mag. Eine Grundversorgung ist nötig und mitzutragen.
Finanzielle Fragen sind Sachfragen, die auf diesem Hintergrund ohne große Ereiferung zu behandeln sind. Angesichts der Sendung der Christen sind sie nachrangig, gehören aber als Rahmenbedingung dazu. Um Geld muss man sich kümmern, aber entsprechend der Bedeutung, die ihm von Gott her zukommt. Zuerst soll es um das Reich Gottes gehen, um alles andere danach (Mt 6,33; Lk 12,31).
Unangemessen scheint daher der Versuch, den Staat bzw. die Tempelbehörden bzw. die Kirche durch die eigene Steuerleistung zu einer Politik bzw. Verwendung nach eigenen Vorstellungen zu zwingen. Das führt zu Reibereien und Partikularismus. Durch solche Versuche werden Tür und Tor für die großen Geldgeber geöffnet, ihre Einflussnahme zu verstärken. Und man vergisst, dass die eigentliche Finanzgewalt heute wohl längst in noch ganz anderen Händen liegt. Jesus stellt das Steuersystem nicht in Frage.
Im Sinn einer christlichen Konfliktkultur muss eine Auseinandersetzung um Finanzen eigentlich als unnötig erscheinen, die im Sinn von Gerechtigkeit allerdings dennoch gefordert ist.
Geld dürfte eigentlich kein Druckmittel sein. Dass mit dem Geld gesellschaftliche und kirchliche Entwicklungen gesteuert werden, ist eine Realität. Bezogen auf das Evangelium geht es dann darum, wie dadurch „Liebe“ gefördert werden kann.
Konfliktkultur: Zwischen alt und neu - Kein neuer Stoff für ein altes Kleid!
„Auch füllt man nicht neuen Wein in alte Schläuche. Sonst reißen die Schläuche, der Wein läuft aus, und die Schläuche sind unbrauchbar. Neuen Wein füllt man in neue Schläuche, dann bleibt beides erhalten.“ (Mt 9,17)
Hier hat ein Weisheitsspruch seinen Platz in der Frohen Botschaft gefunden. Dinge passen nicht unbedingt zusammen, auch wenn sie von der gleichen Art sind. Was mit einem neuen Kleid zu tun wäre ist klar: es anziehen und tragen, so wie es ist. Was aber kann mit einem alten Kleid geschehen, das einen irreparablen Riss hat? Im Haushalt wird dieses Kleid für das verwendet, wozu Stoff noch gut sein kann. Ein altes zerschlissenes Kleid wird nicht mehr getragen, aber verwandelt, wobei es auf die Phantasie für eine Weiterverwendung ankommt, vom Putzfetzen über eine Puppenkleidung bis hin zur Altkleidersammlung.
Schwieriger ist es mit den alten Schläuchen, die nur alten Wein vertragen. Was ist, wenn es keinen alten Wein mehr gibt? Dann sind sie tatsächlich unbrauchbar. Den neuen Wein in diese abzufüllen und auf das Unbrauchbarwerden der Schläuche und das Verschwenden des Weines zu warten, ist unsinnig. Alte Schläuche sind als verbraucht anzusehen. Ob es noch eine andere Verwendungsmöglichkeit gibt, weiß ich nicht.
Natürlich bleibt jeder gern beim Gewohnten (Lk 5,39): „Und niemand, der alten Wein getrunken hat, will neuen, denn er sagt: `Der alte Wein ist besser`“. Der gewohnte Geschmack hält das Neue für schlechter und mag sich sogar dagegen sperren.
Für eine christliche Konfliktkultur heißt das vielleicht: Veränderungen ereignen sich ganzheitlich. Sanfte Anpassung an neue Gegebenheiten ist nur bis zu einem gewissen Grad möglich, wo die Bezeichnung „alt“ und „neu“ noch nicht ganz stimmen. (Auch manches „Neue“ kann sehr alt sein – ohne bewerten zu wollen, was „besser“ sei.)
Wo wirklich „alt“ und „neu“ zusammenkommen, kann es Spannungen bis zum fruchtlosen Zerreißen geben. Eine Anfrage an Personalentscheidungen? Eine Anfrage, ob man Neues will oder ob das Neue doch nur alt sei? Eine Anfrage an die Bereitschaft, vom Alten (und Bewährten) Abschied zu nehmen, weil dessen Zeit vorüber ist, auch wenn sie noch hinausgezögert werden kann? Veränderungen, Reformen und ähnliches müssen wohl ganzheitlich und umfassend sein. Flickwerk nützt nicht viel – nur bis zum nächsten Mal. Wo sich Altes nicht mitverändern kann, werden Risse größer und stellen den Träger des Kleides (d.h. die Beteiligten oder den „Schwächsten“ unter den Beteiligten“) nach einer nicht mehr bestandenen Zerreißprobe einmal fürchterlich bloß. Oder es bleibt ein Museumstück übrig, das vielleicht als geschichtlich wertvoll, kostspielig und ineffizient erhalten wird. Oder es nimmt nur Platz weg und versperrt den Weg für anderes, das gemäß den veränderten Zeichen der Zeit jetzt – neu – notwendig wäre.