Konfliktkultur: Verweigerte Vergebung - Das Gleichnis vom unbarmherzigen Samariter
„Hättest nicht auch du mit jenem, der gemeinsam mit dir in meinem Dienst steht, Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte?“ (Mt 18,33)
Evangelium:
Pflicht zur Vergebung (Mt 18,21-22, Lk 17,4)
Gottes Bereitschaft zur Vergebung ist grenzenlos. Aber er erwartet dieselbe Haltung von allen, die „in seinem Dienst“ stehen, d.h. von denen, die nach dem Evangelium leben wollen. Kleinliches Aufrechnen von Schuld – angesichts Gottes großzügiger Vergebung – ist ein Widerspruch (vgl. Mt 7,3: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“)!
Eine christliche Konfliktkultur erinnert hier zunächst an die eigene Schuld. Sie mahnt, diese zu erkennen, zu bereuen und dankbar über deren Vergebung zu sein. Das setzt die Sensibilität und die Erfahrung bezüglich einer „unverdienten“ Versöhnung voraus. Dann kann dies tatsächlich als Geschenk und als Befreiung erlebt werden.
Es ist möglich, trotz einer geschenkten Vergebung im Innersten davon unberührt zu bleiben. Man ist zwar dankbar und erfreut, aber nicht ergriffen. Und damit kann aus dieser Verzeihung, die nicht wirklich „erfahren“ wurde, nichts weitergegeben werden. Dies scheint bei dem unbarmherzigen Schuldner in diesem Gleichnis der Fall zu sein. Man hat nachträglich den Eindruck, dass sich dieser Mann eigentlich nur recht gut aus der Affäre gezogen hat, vielleicht sogar die Güte des Herrn berechnend.
Die beiden Schuldner stehen in enger Verbindung zueinander. Das macht das Verhalten des Unbarmherzigen noch skandalöser. Denn er sollte wissen, dass der andere vor dem Herrn in gleichem Maß anerkannt, ja geliebt wird. Somit ist sein Handeln nicht nur kleinlich, sondern missachtet zugleich den leicht zu erkennenden Willen des Herrn.
Zur Rechenschaft gezogen wären noch Ausreden denkbar, von denen das Evangelium nichts berichtet. Aber man kann sich ein „Das war mir nicht so bewusst“, „Das hat mir niemand gesagt“, „Ich habe doch verlangt, was mir zusteht“ durchaus vorstellen, was neben egoistischem Denken, Rücksichtlosigkeit und Engstirnigkeit auch Dummheit offenbaren würde. Solche Handlungen sind im Dienst des Herrn deplatziert.
So ist die „Entfernung“ des unbarmherzigen Schuldners nur konsequent. Seine drastische Strafe entspricht dem, was er selbst mit dem anderen getan hat (vgl. Mt 7,2b: „…nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch auch zugeteilt werden“).
Ein kleinliches Nachtragen von Schuld, ein stures Vorhalten von Fehlern und Unvollkommenheiten, ein Herumreiten auf den Schwächen bedeutet: Ein Mensch, der solches tut, hat nichts in einer Gemeinschaft von Christen verloren. Er missachtet eine der Grundregeln im Zusammenleben von Christen, wie sie nach Matthäus im gesamten 18. Kapitel überliefert werden. Eine christliche Konfliktkultur macht hier die ganze Tragweite der ständigen Bereitschaft zur Versöhnung – angesichts der Vergebung von Gott – bewusst. Wer das nur rhetorisch akzeptiert und nicht wirklich innerlich mitvollzieht, stellt sich mit seiner Härte selbst ins Abseits. Wem es nur um Forderungen an andere geht (wie berechtigt sie sein mögen), und wer dabei deren Relativität nicht wahrhaben will, widerspricht dem Geist des Evangeliums. Denn in dessen Sinn ist man einander die Liebe schuldig (vgl. Röm 13,8). Mit der Bereitschaft zur Vergebung wird das Herz des Christen offen und groß für alle, auch für jene, die an ihm schuldig geworden sind.
Konfliktkultur: Pflicht zur Vergebung - Wie oft soll man vergeben?
„Und wenn er sich siebenmal am Tag gegen dich versündigt und siebenmal wieder zu dir kommt und sagt: Ich will mich ändern!, so sollst du ihm vergeben.“ (Lk 17,4)
Evangelium:
Die Pflicht zur Vergebung (Mt 18,21-22, Lk 17,3-4)
Hier kann eine Betrachtung im Sinn christlicher Konfliktkultur kurz sein: Der Gläubige soll bereitwillig, grenzenlos und immer vergeben.
Bei Matthäus ist dazu nicht einmal ein Bekenntnis, Reue oder ein Vorsatz zur Besserung notwendig. Bei Lukas soll man die rhetorische Floskel eines anderen, er werde sich bessern, unbeirrbar wohlwollend zur Kenntnis nehmen, obwohl dies in seiner Oberflächlichkeit noch einmal mehr auf die Nerven gehen kann.
Interessant ist die heute ungebräuchliche Sprachform: „Jemand hat sich gegen mich versündigt.“ Was heißt das? Was kann konkret gemeint sein? Schon in der Zeit der Evangelisten ist dieser Ausdruck eine Verallgemeinerung, die verschiedene Erfahrungen zusammenfasst und ein Stück weit abstrahiert. Vieles kann darin beinhaltet sein.
Das setzt ein Nachdenken über das Geschehene voraus: Ich mache mir die Situation mit all ihren Umständen bewusst und denke das Verhalten des anderen durch; ich komme zu einem enttäuschenden Ergebnis: Er hat etwas Schlechtes gegen mich getan.
Nach Matthäus muss ihm dies nicht einmal auffallen. Es gibt tatsächlich ein Schuldig-Werden an anderen, das nicht beabsichtigt ist, das gar nicht bemerkt wird. Eine kleine Rücksichtslosigkeit kann in Unaufmerksamkeit geschehen, aber doch verletzen. Da dies sicher ein Tun gegen den Willen Gottes ist, kommt so einer objektiv gesehenen „Kleinigkeit“ die Beschreibung „Sünde“ zu. Eine Zurechtweisung kann wegen dem geringen Gewicht der Handlung sogar ohne Vorwurf erfolgen. Man stellt nur klar (u.U. mit Humor) und hilft dem anderen, das nächste Mal aufmerksamer, rücksichtsvoller zu sein. Geht er darauf ein – gut, dann hilft das weiter. Kann er seinen Fehler nicht einsehen bzw. berührt ihn das nicht, so mögen seine leeren Vorsätze als äußeres Zeichen guten Willens gelten, das innerlich nicht mitvollzogen wird. Immerhin zeigt es, dass grundsätzlich eine Verbundenheit besteht und aufrecht bleiben soll, obwohl man über die Nutzlosigkeit von Gesprächen irritiert sein wird. Auf einem gemeinsamen Fundament des Glaubens bzw. der Überzeugung ist das trotzdem verkraftbar – und verzeihbar.
Eine christliche Konfliktkultur braucht ab und zu Abstand von einer konkreten Situation. Wenn man in diese verstrickt bleibt und nur unmittelbar und direkt reagiert, übersieht man Lösungen, die auf anderen Ebenen liegen. Distanz hilft, ebenso die Fähigkeit, das erlebte Tun sprachlich einordnen zu können: z.B. als „Sünde“, wobei es um keine rhetorische Hochstilisierung oder Spiritualisierung geht. Mit der Formel „jemand hat gegen mich gesündigt“ wird die erfahrene (subjektive) Wirklichkeit vor Gott hingetragen und betrachtet. Gott wird in den Konflikt eingeschaltet und kann seine Antwort durch das Beispiel und die Worte Jesu vermitteln.
Das ergibt eine Chance für eine christliche Konfliktkultur: In der Deutung konfliktträchtiger Erfahrungen vor Gott wird mir die eigene oder fremde Schuld klarer. Entsprechend meinen Beobachtungen kann ich dann eine Konfliktlösung in mir, im Gespräch mit anderen, im eigenen Handeln beginnen, wie es eben angemessen ist.
Bei Erkenntnis eigener Schuld schlüpfe ich in dieser Bibelstelle in die Rolle des „Bruders, der sich versündigt hat“ und dem Vergebung und neue Annahme verheißen ist.
Wurde ein anderer an mir schuldig, so mag mir zum großzügigen Verzeihen das Beispiel Jesu auch an anderen Stellen vor Augen stehen, wo es um größere Dinge geht, als um solche, wie ich sie erfahren habe (z.B. Vergebung Jesu am Kreuz, Lk 23,34).
In einer solchen Haltung können wir den gemeinsamen Weg weitergehen. Die damit zu überwindende „Sünde“ wird uns trotz ihrer Belastung nicht auseinanderdividieren.
Konfliktkultur: Vergebung - "Wie ihr vergebt, so wird auch euch vergeben werden..."
„Und wenn ihr beten wollt und ihr habt einem anderen etwas vorzuwerfen, dann vergebt ihm, damit auch euer Vater im Himmel euch eure Verfehlungen vergibt. (Mk 11,25)
Evangelium:
Vor dem Beten vergeben, damit vergeben wird (Mt 6,14-15, Mk 11,25, Lk 11,4)
Erst Versöhnung, dann Opfer (Mt 5,23-24)
Die Trennung vom Nächsten zieht eine Trennlinie gegenüber Gott auf. Zwar ist es möglich, in einer Haltung der Vorbehalte, sogar des Unversöhntseins, vor Gott betend hinzutreten, empfohlen wird das jedoch nicht. Ein solches Gebet ist beeinträchtigt. Wo die Offenheit gegenüber dem Nächsten fehlt, fehlt sie gleichzeitig gegenüber Gott, der ja im Nächsten begegnet (vgl. Lk 18,9-14 – das Beispiel vom Pharisäer und vom Zöllner).
Die Evangelisten beleuchten zwei miteinander verwandte Aspekte. Für Markus ist der Ort und der Zeitpunt der Vergebung sofort gegeben, wenn man sich seines Verschließens vor dem anderen bewusst wird. Jesus stellt nicht in Frage, dass Vorwürfe gegenüber anderen berechtigt sein könnten. Er erwartet einfach eine Großherzigkeit, die über das Maß, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, weit hinausgeht, weil ja auch Gottes Großherzigkeit gegenüber mir viel größer ist, als sie „angemessen“ wäre.
Verbunden mit der Vergebung gegenüber anderen ist das eigene Eingeständnis von Vergebungsbedürftigkeit. Ohne dies bleibt ersteres oberflächlich oder rhetorisch. Im „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ wird dieser Zusammenhang deutlich (Mt 6,12, Lk 11,4). Wer einen der zusammengehörigen Teile der Vergebung nicht wahrnimmt, erkennt nicht, dass seine Beziehung zu Gott – möglicherweise – getrübt ist.
Bei Matthäus wird die Empfehlung zur Versöhnung verschärft. Hier erwartet Jesus Taten, d.h. Schritte auf den Nächsten zu, mit dem es Streit gibt. Und die Schuldfrage wird umgedreht: Nicht ich habe dem anderen etwas vorzuwerfen, sondern der andere hat etwas gegen mich. Und es bleibt uninteressant, ob das berechtigt oder unberechtigt oder einfach ein Missverständnis ist. Eine beeinträchtigte Beziehung muss gereinigt werden. Es liegt immer an mir, den ersten Schritt zu gehen. Gleichzeitig wird dies von jedem erwartet, der dieses Wort der Bibel ernst nimmt, sodass im Idealfall jeder Christ stets vorbehaltlos zur Versöhnung, zum ersten Schritt, bereit ist.
Praktische Schwierigkeiten mögen sich aus der Situation ergeben. Es ist nicht immer möglich, sich vor dem Weg zum Altar zu versöhnen, da der andere z.B. nicht erreichbar ist oder er sich nicht ansprechen lässt, weil seine Vorbehalte gegenüber mir zu groß sind. Es kann sogar sein, dass ein Bemühen um Versöhnung fruchtlos ist. Den Versuch verlangt Jesus auf jeden Fall! Dann bleibt nur ein anderer Weg der Versöhnung vor Gott: im Gebet, im Sakrament.
Das Opfer, das ich zum Altar bringe, kann ich selbst sein in der Bereitschaft, mich von Gott verwandeln zu lassen. Dies geschieht in der Feier des Gottesdienstes. Meine Offenheit ist mit-entscheidend für die Annahme der Gnade, d.h. für meine persönliche Umkehr und Verwandlung auf Gott hin. Wenn ich daher nur halb vor ihn trete, wenn ich mich nur teilweise Gott übergeben will, so bleibt – bildlich gesprochen – ein Teil von mir ohne Beziehung zu ihm. Ein Stück meiner Persönlichkeit tritt dann nicht in Kontakt mit Gott, was allerdings meine ganze Person, mein ganzes Mensch-Sein, meine ganze Gottesbeziehung beeinträchtigt. Es gibt nur einen Weg, dies zu vermeiden: sich ganz auf Gott einzulassen.
Sollte dies durch einen aktuellen Konflikt verhindert werden, muss die dadurch entstandene Einschränkung meiner Beziehungsfähigkeit zu Gott beseitigt werden. Es ist – sofort – der erste Schritt zu einer anstehenden Versöhnung zu gehen.
Worum es geht, wer im Recht oder im Unrecht ist, bleibt Nebensache. Denn Gott ist gegenüber mir und jedem stets unendlich großzügig. Die eigene praktizierte Großherzigkeit hat eine Chance, „etwas von Gott“ zu zeigen. Dabei spielt es keine Rolle, ob meine Schritte beantwortet und bedankt werden. Wird mein ehrliches Bemühen enttäuscht, kann ich die Sache Gott überlassen, der in seiner Geschichte mit den Menschen noch viel mehr und größere Enttäuschungen einstecken muss. In Sinn einer christlichen Konfliktkultur finden sich hier Kernsätze (bes. Mk 11,25 / Mt 5,23-24), die allerdings allzu leicht in eine oberflächlich-spirituelle Dimension abgeschoben oder ohne praktische Bedeutung ritualisiert werden. Die Einladung, mit dem Evangelium ernst zu machen und damit sofort zu beginnen, ergeht jederzeit von neuem.
Konfliktkultur: Ermahnung - Verantwortung für den Bruder
„Wenn dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen.“ (Mt 18,15)
Evangelium:
Verantwortung für den Bruder (Mt 18,15-17, Lk 17,3)
Die Zurechtweisung des Bruders / der Schwester scheint festen Spielregeln zu folgen. Der erste Schritt – die Mahnung unter vier Augen – wahrt die Intimsphäre, stellt niemanden bloß und versucht, einen Konflikt im kleinstmöglichen Rahmen zu lösen. Es geht nicht um eine Kleinigkeit. Unter „Sünde“ kann man schon etwas „Handfestes“ verstehen, bei dem das Unrecht offensichtlich ist. Eine skrupulöse Beobachtung von Verfehlungen ist nicht gemeint.
Die Identifizierung einer Handlung als „Sünde“ ist nicht leicht, da die Situation oft nicht eindeutig ist. Dadurch wird das Handeln verschleiert und kann in seiner tatsächlichen Bedeutung unerkannt bleiben. Es braucht also jemanden, von dem man auf das eigene Tun hin angesprochen wird. Und das ist einer, der es gut meint. Heute wird er jedoch zunächst unter dem Verdacht stehen, er wäre anmaßend, kleinlich, verständnislos, unbarmherzig, streng, hart usw. Abgesehen davon: Wer wagt es überhaupt, etwas ernsthaft als „Sünde“ zu bezeichnen? (Die Sprache hat den Begriff „Sünde“ dramatisiert, hochstilisiert, banalisiert, ironisiert, emotionalisiert usw.; dass es sich um eine Trennung von Gott oder eine Trübung der Beziehung zu Gott und den Menschen handelt, wird nicht wahrgenommen.) Wer den Begriff „Sünde“ heute verwendet, wird nicht verstanden.
Es ist keine leichte Sache, jemanden zu ermahnen. Und da es nicht um Lehrmeisterei geht, obwohl das so gedeutet werden kann, muss deutlich werden, dass es um die Sorge für einen geschätzten, ja geliebten Menschen geht. Ein Mahner folgt dem Auftrag Jesu, weil er letztlich einen Menschen nicht verlieren will, dem er verbunden ist. Dahinter steht das Motiv der Liebe.
Wo das Zwiegespräch nicht hilft, müssen dem Ernst der Sache entsprechend weitere Schritte folgen. Eine kleine Gruppe, eine beschränkte Öffentlichkeit wird hinzugezogen, sodass das Problem im kleinen Kreis bleibt. Ein zu schnelles Hinausgehen in die größere Öffentlichkeit würde Positionen verhärten und jemanden in die Enge treiben, der sich dann nur mehr unterwerfen (aber das wäre unwürdig) oder die Gemeinschaft verlassen könnte, was schmerzhaft und unverständlich wäre.
Zwei Personen sollen bei einer Vermittlung helfen. Vielleicht ist das erste Gespräch nur verunglückt. Es geht nicht um eine Art Supervision der Konfliktsituation, sondern um Verdeutlichung einer Sünde und deren Konsequenzen sowie um das Bemühen, Einsicht und Reue zu eröffnen. Nicht zu vergessen: Man will einen Menschen gewinnen – und ihn nicht von oben herab schulmeistern!
Besonders der Stil dieses Gespräches wird wichtig sein. Niemand soll in eine „Rolle“ schlüpfen, weder in die eines „Lehrers“ noch in die eines „Kindes“, das Ausflüchte sucht.
Bei Erfolgslosigkeit dieses zweiten Versuchs ist die Gemeinde zu mobilisieren. In unseren Breiten ist das so nicht durchführbar. Die Situation der neutestamentlichen Gemeinden war anders. Ein Ausschluss aus der Gemeinde damals ist mit einem Kirchenaustritt heute nicht vergleichbar. Auch die Beziehungen der neutestamentlichen Gemeinden zu Heiden oder Zöllnern sowie mit dem gesamten kulturellen Umfeld haben mit der Beziehung heutiger christlicher Gemeinden und Vereinigungen zu nicht-christlichen Gemeinschaften keinen Vergleich.
Ein Grundgedanke soll klar sein: es geht um das Gewinnen eines Menschen, der Hilfe zur Umkehr braucht. Wenn er dies nicht annimmt, kommt es zur Entscheidungssituation: Willst du Christ sein? Was bedeutet dir Christus?
Aber die Grenzen zwischen Christen und Nicht-Christen im Umfeld eines Auswahl-Christentums sind fließend. Auch die Form und das Bewusstsein von Zugehörigkeit ändern sich ständig. Und so stellt sich die Frage: „Christ sein – ja oder nein“ kaum je bewusst.
Für eine christliche Konfliktkultur bleibt vor allem der Mut aus Liebe gefordert, den Weg zum anderen zu gehen, von dem man meint, dass er auf einem Irrweg geht. Es braucht eine Sensibilität für die Erkenntnis von Irrwegen in der Gemeinde. Die Grauzone, in der sich viele Handlungen und Lebensstile bewegen, macht es schwierig, eine „Sünde“ als Sünde zu erkennen und zu beurteilen. Trotzdem ist ein Gespräch in Liebe immer ein guter Weg. Es geschieht ja aus Anteilnahme und Sorge, nicht um einer Belehrung willen.
Nichts ist so eindeutig wie das, was man unterlässt (Tucholsky). In diesem Sinn fordert eine christliche Konfliktkultur zum offenen Wort in geeignetem Rahmen und in angemessenem Stil heraus. Sie muss Empfindlichkeit und Vorverurteilungen vermeiden und braucht den Mut zu Konsequenzen. Wo die Einnahme gegensätzlicher Standpunkte grundsätzlich und in christlichem Sinn unüberbrückbar wird, sollen diese nicht oberflächlich harmonisiert oder verharmlost werden. Das soll mitmenschliche Beziehungen so wenig wie möglich hindern trotz einer gewissen, vielleicht klaren Trennung.
„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden. (Mt 7,1-2)
Evangelium:
Splitter – Balken (Mt 7,1-5, Lk 6,41-42)
Eine der eindringlichsten Mahnungen des Neuen Testaments angesichts einer christlichen Konfliktkultur ist der Auftrag zur Selbstbesinnung, bevor man andere kritisiert und sich an ihnen stößt. Da dies für einen bemühten Christen theoretisch klar ist, müssen die Schwierigkeiten in der Praxis auf einer schwer zugänglichen Einsicht in die Verhältnisse beruhen. Ich denke, es sind die Probleme der Wahrnehmung und der Bescheidenheit.
Nur bei ehrlicher Gewissenserforschung erkenne ich den Balken in meinem Auge. Denn zunächst sehe ich höchstens Splitter bei mir, die zumeist gut erklärbar sind, die ich eigentlich im Griff zu haben meine. Außerdem kann ich selbstverständlich erwarten, dass andere über diese meine kleinen Unvollkommenheiten hinwegsehen… – Aber es kommt auf die Haltung an! Nach der Feststellung meiner geringfügigen Fehlerhaftigkeit kann ich mich mit anderen vergleichen. Was mich bei diesen stört, hat viel größere Ausmaße als bei mir selbst. Im Normallfall werde ich die Fehler der anderen nie kleiner einschätzen als meine eigenen. Und genau hier liegt der Irrtum, der bei einem zu raschen Verstehen dieser Bibelstelle entsteht. Es geht nicht um einen Vergleich zwischen mir und anderen aus meiner Sicht, sondern von Gott her. Und das sollte mich zu mehr Demut mahnen.
Denn die Betrachtungsweise dieser Bibelstelle setzt jemanden voraus, der über den anderen urteilt und sich für besser hält. Das ist – objektiv – bereits eine Haltung der Arroganz, ja der Selbstherrlichkeit, auch wenn dies – subjektiv – nicht so gesehen wird. Insofern macht vielleicht genau dies (die Arroganz) die Größe des Balkens aus, deretwegen die Fehler der anderen vor Gott vergleichsweise nur mehr die Ausmaße eines Splitters erreichen. Denn Gott sieht nicht nur das „Tun an sich“, sondern alle Haltungen, in denen ein Mensch lebt und handelt.
Eine christliche Konfliktkultur mahnt, sich und die anderen von Gott her zu betrachten. Großzügigkeit ist angesagt, das Gott mir das gleiche Maß zusagt, wie ich es dem anderen gewähre. Ein gutes Stück Demut soll mich in – manchmal unvermeindlichen – Konflikten begleiten, damit ich nicht zum Richter oder Oberlehrer des anderen werde, sondern zum Diener, der ihm hilft, auch den kleinen lästigen Splitter zu entfernen, der ja gar nicht wirklich zu seiner Persönlichkeit gehört. Ein hoher, ein gerechter, ein befreiender Anspruch, bei dem es auf die Einstellung ankommt!
Konfliktkultur: Verhärtung - Die Sünde gegen den Heiligen Geist
„Jedem, der etwas gegen den Menschensohn sagt, wird vergeben werden; wer aber den Heiligen Geist lästert dem wird nicht vergeben.“ (Lk 12,10)
Evangelium:
Von der Sünde gegen den Heiligen Geist (Mt 12,31-33, Mk 3,28-29, Lk 12,8-10)
Jesus macht es uns nicht leicht, hier zu verstehen, was er meint. Deshalb kann niemand sicher sein, dies voll ergründen zu können.
Im Verhältnis der Menschen zu Jesus gibt es einen Unterschied zwischen „Sich-nicht-zu-ihm-bekennen“ und „Etwas-gegen-ihn-sagen“. Ein Bekenntnis ist umfassend, ganzheitlich, Worte sind nur ein Teilaspekt. Hinter einem Bekenntnis steht ein Mensch mit seiner ganzen Persönlichkeit, Worte können neu überlegt und zurückgenommen, eine Meinung kann geändert werden. Das erinnert an das Gleichnis von den beiden Söhnen (Mt 21,28-31) und an die Verleugnung durch Petrus (Mt 26,69-75; Mk 14,66-72; Lk 22,55-62; Joh 18,15-18.25-27). Die gesprochenen Worte entsprechen nicht den späteren Taten. Denn im Gleichnis von den beiden Söhnen ist es der sich in Worten verweigernde Sohn, der später den Willen des Vaters tut. Man könnte sagen: In seinem Tun bekennt er sich zum Vater. Der andere redet zwar schön, bekennt sich de facto aber nicht zum Vater.
Dass Jesus Vergebung vorhergesagt hat für jene, die etwas gegen ihn sagen, klingt gutmütig. Es bedeutet dann eigentlich nichts, wie jemand von oder über Jesus redet – oder? Das ist ein Problem! Ein Liebender, einer der sich zu Jesus bekennt, verkraftet schwer, wenn von dem Geliebten und Geschätzten abfällig oder ihm gegenüber feindselig und diskriminierend gesprochen wird. Außerdem ist es naheliegend, abfällige Worte in Verbindung mit einer abfälligen Haltung und mit Feindseligkeit zu vermuten.
Im Gegensatz zu unserem Empfinden scheint Jesus eine verbale Ablehnung nicht so tragisch zu nehmen. Er verharmlost sie nicht, da sie sicherlich negative Konsequenzen für die Grundhaltung eines Menschen ihm gegenüber haben wird, aber letztlich bedeuten Worte allein nicht wirklich Trennendes.
Somit ergibt sich für eine konflikthafte Begegnung von Christen und Menschen, die etwas gegen Jesus sagen, eine Ermutigung zur Gelassenheit. Gerade in einer pastoralen Situation kann man innerlich ruhig bleiben. Das heißt nicht, dass man mit seiner Leidenschaft für Jesus, mit Argumenten oder mit Widerspruch hinter dem Berg halten soll, aber die vor Gott gültige Vergebung hängt nicht von uns ab.
Das entlastet davon, eine mangelnde Erkenntnis Jesu bei anderen unbedingt nachholen zu müssen (– obwohl ich natürlich aus innerlicher Begeisterung mein Möglichstes tun werde, weil ich es für wertvoll, bereichernd und faszinierend halte). Der Ärger über Jesus-Ignoranten kann keinesfalls meine Freude an Jesus beeinträchtigen. Ich brauche nicht das Gefühl zu haben, einen Schatz zu verkünden, für ihn zu werben, der dann uninteressant und unbeachtet bleibt. Der Weg dieser Menschen mit Gott läuft an mir vorbei. Ich erfahre in Enttäuschung meine Erfolgslosigkeit und meine Grenzen, kann aber Gottes Wegen auch darin vertrauen. – Kann ich das?
Plötzlich verschärft Jesus seine Rede eindringlich. Die Sünde gegen den Heiligen Geist, d.h. das erkannte Gute nicht zu tun, es zu unterlassen oder gegenteilig zu handeln und darin zu verharren: Das ist abgrundtief böse. Es bedeutet eine Ablehnung all dessen, was der Heilige Geist gibt: sich nicht trösten, nicht mahnen, nicht erinnern, nicht lehren, nicht beistehen zu lassen oder selber nicht beistehen, nicht erkennen, nicht unterscheiden und nicht in der Wahrheit sein zu wollen. Der Heilige Geist wird aus dem Leben, mehr oder weniger bewusst – ausgeschlossen.
Sicherlich wird kein Gläubiger dies wollen und die Dramatik dieses Textes für sich nicht sogleich sehen. Aber er beschreibt eine Möglichkeit, ja eine Wirklichkeit, vor der man nicht die Augen verschließen darf.
Eine christliche Konfliktkultur mahnt zur Gelassenheit gegenüber solchen, die etwas gegen Jesus sagen, gleichzeitig aber zu höchster Aufmerksamkeit, Sorge und Bestürzung über jene, die de facto nichts Gutes im Sinn haben. Die Begegnung mit solchen macht fassungslos.
Weiters spricht diese Stelle der Heiligen Schrift die Dramatik möglicher eigener Fixiertheit auf etwas Falsches an. Denn die Möglichkeit, im – unbewussten – Widerspruch zum Heiligen Geist zu leben, besteht auch für Gläubige. Eine christliche Konfliktkultur muss deshalb mit dem eigenen Versagen rechnen und dementsprechend das Verhalten immer wieder unter dem Anspruch des Heiligen Geistes prüfen.
Konfliktkultur: Hass - Vom Hass der Welt gegen die Jünger
„Denkt an das Wort, das ich euch gesagt habe: Der Sklave ist nicht größer als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen; wenn sie an meinem Wort festgehalten haben, werden sie auch an eurem Wort festhalten.“ (Joh 15,20)
Evangelium:
Der Hass der Welt gegen die Jünger (Joh 15,18 - 16,4)
Jesus stellt den Jüngern eine der dunkelsten „Schattenseiten der Welt“ eindringlich und schonungslos vor Augen. Er beschreibt eine Welt der Wölfe, die jeden zerreißt, der nicht mit-heult. Im Auftrag Gottes soll jedoch eine Veränderung durch Liebe gebracht werden, die an einem Ort der falschen Werte so herausfordernd sein kann, dass eine Gesellschaft darauf mit Ablehnung, Hass und Verfolgung reagiert. Das Leben Jesu selbst ist ein solches Beispiel. Die Geschichte der Märtyrer, auch in unserer Gegenwart, legt davon Zeugnis ab.
Nur auf diesem Hintergrund lässt sich die Härte der Worte Jesu in einem ziemlich harmoniegewohnten Mitteleuropa verstehen. Der Evangelist Johannes zeichnet die Gegensätze scharf zwischen Licht und Dunkel, Leben und Tod, Liebe und Hass, besonders in den Abschiedsreden (Joh 13-17). Zwischentöne, Übergänge und Nuancen werden ausgeblendet und legen dem Leser eine Schwarz-Weiß-Sicht nahe, die seiner Lebenserfahrung mit der Welt von heute nicht entspricht. Das bloße Wissen um die historischen und gesellschaftlichen Bezüge des Textes in der johanneischen Gemeinde ist zwar hilfreich, kann aber nur selten ins Herz dringen. So gilt es, die Radikalität der Sprache des Textes nur in dem Maß zu übernehmen, wie man sie nachvollziehen kann: Was will Gott hier sagen? Was bedeutet das für uns?
Christen, die einander nach dem Beispiel Jesu lieben, wie es unmittelbar vor der hier betrachteten Textstelle (Joh 15,17) heißt, sind eins mit ihm. Jede Erfahrung, die Jesus gemacht hat, kann sie ebenfalls treffen: die bewährte Treue und das bedingungslose Zusammenstehen in der Gemeinschaft der mit Christus Liebenden, aber auch der Hass und die Blindheit jener, die nicht lieben. Der spezifische Blick für eine christliche Konfliktkultur sieht sich hier einer Auseinandersetzung gegenüber, in der es ein kompromissloses Gegeneinander gibt. Die Situation kann einiges erklären, aber nichts entschuldigen. Es zählt, was unter dem Strich herauskommt, unabhängig von möglichen, subjektiven, mildernden Umständen.
Eine christliche Konfliktkultur muss diese Gegensätze durchhalten. Auch wenn man einen „Gegner“ aus einer ganz bestimmten Sicht vielleicht sogar verstehen kann: In seinem Handeln bleibt er ein „Gegner“. Und hoffentlich wird man in solchen Auseinandersetzungen nicht selbst zu einem „Gegner der Liebe“.
Im Sinn einer christlichen Konfliktkultur ist im Ernstfall mit einem „Konflikt mit der Welt“ zu rechnen. Und die „Welt“ geht durch jeden Menschen hindurch, der sich an ihren Kriterien orientiert, also durch jeden von uns, immer wieder. Deshalb kann ein „Konflikt mit der Welt“ auch an kirchlichen Orten, ja in mir selbst, begegnen. Jesus verheißt, dass der einzelne Gläubige diese Situation durchstehen kann. Was im psychisch und physisch wiederfahren wird, bleibt zweitrangig hinter der Gewissheit, im Heiligen Geist an der Liebe Christi festhalten und davon Zeugnis geben zu können. Wo dies vor Menschen ohnmächtig bleibt, zählt es vor Gott. Was immer bewirkt werden kann, wird der Heilige Geist durch seine Zeugen tun, die sich seiner Kraft anvertrauen und nicht nur mit den eigenen Fähigkeiten rechnen sollen.