"Gemeindeleitung" durch Laien. Genese und Ergebnis eines Forschungsprojektes
1. Die wichtigste Erwartung der Befragten (Mitglieder von sechs verschiedenen Pfarrgemeinden in den Bistümern Limburg und Aachen) ist: Kirche soll erreichbar sein; jemand soll da sein, wenn ich ihn brauche; und dies ohne zeitliche Einschränkung, Tag oder Nacht, wann immer es nötig ist. Von Kirche wird erwartet, dass ein Ansprechpartner da ist, und zwar immer, wenn Menschen das Bedürfnis dazu haben. Beim Nachfragen zeigt sich, dass dieses Bedürfnis besondere Situationen betrifft, und zwar, wenn das Leben als Ganzes thematisiert wird. Dies geschieht bei großen Ereignissen im Leben, kann aber auch durch ganz banale Situationen ausgelöst sein. Entscheidend ist, das Leben kommt als Ganzes zumindest implizit zur Sprache.
2. Weitere Ergebnisse Im Bezug auf den personellen Aspekt lässt sich zusammenfassend sagen, dass jede Pfarrgemeinde sich ihren eigenen Pfarrer wünscht, der in der Pfarrgemeinde wohnt und auf Dauer in ihr wirkt. Dies kann im Sinn der Lebensnähe als der "präsentischen Herangehensweise" entsprechend verstanden werden und würde zugleich die Differenz erklären zwischen der Hochschätzung der Pfarrer in deutlicher Absetzung von jener, die Gemeinde- und Pastoralreferenten entgegengebracht wird, deren Wirken "als Beruf" vornehmlich funktional gesehen wird. Unsere Interviewpartner erwarten, dass der Pfarrermangel durch die Veränderung der Zulassungsbedingungen zum Priesteramt und nicht durch die Zusammenlegung von Pfarrgemeinden behoben wird. Die Stiftung und Förderung von Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen sowie der Menschen untereinander prägt die Erwartungen an das pastorale Handeln. Als geeignete Mittel werden in erster Linie gottesdienstliche und gemeindliche Feiern angesehen. Weitere bekannte Instanzen des pfarrgemeindlichen Lebens werden mit der Erwartung der Begünstigung von Gemeinschaft behaftet, so z.B. Chöre, Gruppen und Gremien. Dass Gemeinschaft weniger von normativen Vorgaben lebt und sich vielmehr durch Beziehung, Kommunikation und Dialog aufbaut, erwartet die Mehrzahl unserer Interviewpartner. Die Krise des Pfarrermangels zwingt die Pfarrgemeinden zur Kooperation mit den Nachbargemeinden. Diese Kooperation wird in vielen Handlungsfeldern begrüßt, und zwar genau dann, wenn sie mit der Erwartung pragmatisch-pastoraler Vorteile verbunden ist, d.h. konkret: Es wird eine effiziente Mangelverwaltung und zudem eine Sicherung der Eigenständigkeit erwartet, wobei der dafür notwendige Aufwand minimalisiert werden sollte. Insgesamt können die Erwartungen hinsichtlich der Kooperation als strukturkonservativ bezeichnet werden. In Bezug auf den Alltag der Menschen mit ihren vielfältigen Problemen wird die Erwartung formuliert, pastorales Handeln möge lebensbegleitend sein. Dafür wird eine ähnliche Lebenserfahrung vorausgesetzt. Menschen wollen in ihrem Lebensweg nicht normiert, sondern begleitet werden. Bei den Erwartungen an pastorale Angebote kommt zur Sprache, dass diese zielgruppenorientiert konzipiert und ausgerichtet sein sollten. Authentizität als Übereinstimmung von Reden und Handeln gilt für das glaubensbezeugende Handeln als entscheidend. Die Erwartungen an die Weise der Zuordnung von Praxis und Verkündigung präsentieren ein breites Spektrum: Als vorbildhaft und authentisch kann Nächstenliebe ebenso wie ein professionelles Handeln im Sinne Jesu, aber auch ein die Würde des Menschen achtendes Handeln sowie das Bekenntnis zur Gottesdienstgemeinde gelten. Die Förderung und Stärkung des Glaubens wird durch das Zeugnis vertrauter Personen in Familie und Gemeinde erwartet sowie von geistlichen Texten im weitesten Sinn. An die Kirche richtet sich die Erwartung, den Glauben an Gott und an Jesus Christus wieder mehr in den Mittelpunkt zu stellen vielleicht auch deshalb, weil die Kompetenz, über den Glauben zu sprechen, als rückläufig eingestuft wird. Neben der Gemeinschaft und der Zuwendung zum Menschen wird damit ein dritter Mittelpunkt benannt, an dem das pastorale Handeln der Kirche sich ausrichten soll. Die Glaubensweitergabe wird vor allem von Predigt und gemeindlicher Sakramentenkatechese erwartet. Auch die weniger ausgeprägten Erwartungen an die Glaubensweitergabe bewegen sich in einem eher traditionell zu nennenden Rahmen; dies obwohl die Krise der Glaubensweitergabe durch die Predigt und Erwachsenenkatechese wahrgenommen werden. Schwer einzuordnen ist die Tatsache, dass zahlreiche Interviewpartner angeben, dass die Pfarrgemeinde keinen Einfluss auf ihren persönlichen Glauben hätte. Sowohl hinsichtlich der Glaubensvorstellungen als auch hinsichtlich der Moralvorstellungen erwarten die Interviewpartner eine Bejahung von Pluralität, die sie in unterschiedlichen Modellen als die Einheit nicht gefährdend ansehen. Der Terminus "Einklang", der in diesem Zusammenhang gewählt worden ist, erinnert an Hans Urs von Balthasars These, dass die Wahrheit symphonisch sei. Eine Pluralität bejahende Erneuerung und zugleich die Gewährleistung der Liturgie wird zudem zur Behebung der Krise des Gottesdienstes gefordert. Unter dem Aspekt der pastoralen Rollen, Dienste und Ämter zeigte sich, dass der Priester eine hohe Reputation genießt. Erwartet wird von ihm vor allem personale und pastorale Kompetenz. Dass er in der Gemeinde Präsenz zeigt und zeitlich verfügbar ist, wird von ihm als Pastor erwartet. Als Pfarrer soll er die Gemeinde repräsentieren. Es gibt eine Erwartungshaltung, die ihn als unverzichtbar für das Gemeindeleben bezeichnet, aber ebenso eine, die einen Pfarrer für wünschenswert hält, es aber lediglich für zwingend erforderlich hält, dass eine Bezugsperson da ist. Zahlreiche Interviewpartner bezeichnen den Verlust des eigenen Pfarrers als schmerzhaft.
Die Rolle des Priesters als Moderator erscheint noch weitgehend unterbestimmt. In den Erwartungen, die sich an ihn richten, dominiert die Orientierung am Pfarrer. Andererseits gibt es eine Einstellung, seine Rolle minimalistisch zu interpretieren und von ihm nur priesterlich sakramentale Dienste zu erwarten. Bisweilen wird er aber auch als Pastor gefragt. Weder vom Priester als Liturgen noch von ihm als Pastor wird erwartet, dass er unbedingt Leiter der Pfarrgemeinde sein müsse. Von einem Pfarrer hingegeben wird erwartet, dass er sich auf eine Gemeinde konzentriert, in ihr präsent ist und auch vor Ort wohnt. Alle Abweichungen von diesem Ideal werden als krisenhaft wahrgenommen. Die Pfarrgemeindeleitungsform nach c. 517 § 2 CIC wird entsprechend von nicht wenigen am klassischen Modell der Zuordnung von je einer Pfarrgemeinde zu je einem eigenen Pfarrer gemessen. Der anhaltende Pfarrermangel trägt jedoch zur Erosion dieses Modells durch die schleichende Entfremdung von Pfarrgemeinden und Priestern, die sich nicht mehr nur auf eine Pfarrgemeinde konzentrieren und nicht mehr kontinuierlich vor Ort präsent sein können, bei. Die Erwartung, durch eine Veränderung der Zulassungsbedingungen zum Weiheamt den Pfarrermangel wirksam und dauerhaft beheben zu können, ist stark ausgeprägt. Von den mit der Wahrnehmung der Pastoral Beauftragten wird erwartet, dass sie sich bewähren. Die pragmatische Perspektive dominiert. Kriterium ist die Förderung der Lebendigkeit der Pfarrgemeinde. Erwartet wird eine präzise Ausformulierung ihrer rechtlichen Kompetenzen. Das Faktum, dass in der Praxis Gemeindeleitung nach c. 517 § 2 CIC immer im Team ausgeübt wird, begünstigt die Erwartung einer affektiven und effektiven Kollegialität im Alltag. Beziehung wird zu einer wichtigen, allerdings nicht unumstrittenen Kategorie von Leitung, da es auch die Erwartung gibt, eine Person müsse letztendlich das Sagen haben. Je mehr Ehrenamtliche aus der Pfarrgemeinde an der Gemeindeleitung beteiligt sind, um so stärker wird die Erwartung, dadurch weitere Ehrenamtliche motivieren und - vor allem - die Eigenständigkeit der Pfarrgemeinde sichern zu können, nachdem es keinen Pfarrer mehr gibt, dessen Dasein diese in der Vergangenheit garantieren konnte. Mit Autoritätsproblemen ist gleichwohl zu rechnen, wenn die Mitglieder der Leitung einer Pfarrgemeinde aus dieser kommen und nicht durch eine Wahl dazu legitimiert sind. Mit der Legitimationsform der bischöflichen Beauftragung verbindet sich ein Bonus für diejenigen, die von außen in die Pfarrgemeinden gesandt werden. An die Pfarrgemeinde als Subjekt der Pastoral richtet sich die Erwartung, Ressource für ehrenamtliches Engagement zu sein. Die Praxis ist darüber hinaus von der Erwartung geprägt, Kirchenferne erreichen zu wollen und zugleich der Enttäuschung, dazu keinen Weg zu kennen. Die neue Form der Pfarrgemeindeleitung wird nur anfanghaft nicht nur als Notlösung angesehen. Mit ihr verbinden sich positive Erfahrungen mit Laiendiensten sowie Erwartungen an die Sicherung der Eigenständigkeit der Pfarrgemeinde ebenso wie an die Sicherung einer fruchtbringenden Pastoral in der Pfarrgemeinde. Beides deutet auf das Vertrauen der Praxis in die Zukunftsfähigkeit dieser Pfarrgemeindeleitungsform hin. Dabei dürfen Befürchtungen hinsichtlich der Gefährdung der Identität des priesterlichen Amtes nicht verschwiegen werden. Ob diese mit der Beteiligung von Laien an der Leitung der Pfarrgemeinde zusammenhängen oder mit der Art der priesterlichen Präsenz in den Gemeinden, konnte durch die Interviews nicht geklärt werden. Die Frage muss offen bleiben. Dass die Praxis der Leitung von Pfarrgemeinden nach c. 517 § 2 CIC die Bedeutung eines Modells für die Zukunft der Gemeindeleitung haben kann, wird grundsätzlich anerkannt. Es gibt jedoch zahlreich offene Fragen. Soll Pfarrgemeindeleitung durch Personen, die von außen in die Pfarrgemeinde kommen, ausgeübt werden oder auch von Pfarrgemeindemitgliedern? Welche fachlichen und rechtlichen Kompetenzen sollten diejenigen haben, die an der Wahrnehmung der Pfarrgemeindeleitung beteiligt sind? Soll Pfarrgemeindeleitung durch eine einzelne Person oder durch ein Team ausgeübt werden? Sollen alle an der Pfarrgemeindeleitung Beteiligten in der Pfarrgemeinde wohnen? Wie lässt sich die Erwartung nach Stabilität in der Pfarrgemeindeleitung mit den personellen Wechseln in Einklang bringen? Wie lässt sich die Beziehung zwischen Pfarrgemeindeleitung und Vorsitz in der Eucharistiefeier in der Praxis lösen? Ist an die Weihe von Pfarrgemeindeleitern und differenzierte Fortschreibung des kirchlichen Amtes im Sinne Paul Zulehners zu denken? Wie lässt sich schließlich die missionarische Resignation der Pfarrgemeinden mit der Erwartung an ihre Lebendigkeit in Einklang bringen. Wie lässt sich das Kriterium der Lebendigkeit jenseits der Vorstellung von ehrenamtlichem Engagement im Bewusstsein der Pfarrgemeinden verankern?