Auf der Suche nach Lebenschancen
Migration hat verschiedene Ursachen. Dahinter steht grundsätzlich eine freie Entscheidung von Menschen, die aber im konkreten Einzelfall oftmals nicht so frei ist. Es geht um die Suche nach Existenzgrundlagen, die in der Heimat nur mangelhaft gegeben sind. Neben der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation sind Naturkatastrophen, Unruhen und Kriege hauptsächliche Gründe für Migration.
Menschen fragen: Wo sind zukunftsträchtige Lebenschancen?
Kirchliche Leitlinien
Das Zweite Vatikanische Konzil kommt in mehreren Dokumenten auf das Thema Migration bzw. auf Migrant/innen zu sprechen.
„Nicht gering zu schätzen ist auch, wie viele Menschen, aus verschiedenen Gründen zur Migration veranlasst, ihre Lebensweise ändern“ (Gaudium et spes 6,4). Gaudium et spes 65,3 spricht sogar von einem persönlichen Recht auf Migration.
Migrant/innen sollen in ihren neuen Lebenssituationen kirchliche Unterstützung erhalten; die Bischöfe sind dafür Letztverantwortliche, realisiert wird dies zumeist von Priestern, Ordensleuten und Laien.
„Besondere Sorge soll getragen werden für die Gläubigen, die wegen ihrer Lebensbedingung die allgemeine ordentliche pastorale Sorge der Pfarrer nicht genügend genießen können oder derselben völlig entbehren, als da sind sehr viele Migranten, Vertriebene und Flüchtlinge, Seeleute sowie auch Luftfahrer, Nomaden und andere derartige. Es sollen geeignete pastorale Methoden unterstützt werden, die das geistliche Leben derer fördern, die um der Erholung willen zeitweilig andere Gegenden aufsuchen.“ (Christus Dominus 18,1)
„Sie (die Laien, Anm.) sollen beständig den Sinn für die Diözese pflegen, deren Zelle gleichsam die Pfarre ist, stets bereit, auf Einladung ihres Hirten auch ihre Kräfte diözesanen Unternehmungen zu widmen. Ja, um den Bedürfnissen der Städte und ländlicher Gegenden zu entsprechen, sollen sie ihre Mitarbeit nicht innerhalb der Grenzen der Pfarrei oder Diözese eingeschränkt zurückhalten, sondern sich bemühen, sie auf zwischenpfarrliche, interdiözesane, nationale oder internationale Felder auszudehnen, und zwar umso mehr, da es die von Tag zu Tag wachsende Migration der Völker, die Zunahme der gegenseitigen engen Beziehung und die leichte Mitteilbarkeit von Nachrichten nicht mehr zulassen, dass irgendein Teil der Gesellschaft in sich abgeschlossen bleibt. So sollen sie um die Bedürfnisse des auf dem ganzen Erdkreis verstreuten Volkes Gottes besorgt sein. Vor allem sollen sie die missionarischen Werke zu den ihren machen, indem sie materielle oder auch personelle Hilfe leisten.“ (Apostolicam Actuositatem 10,3)
Es ist wichtig, dass auch dem Alltag und dem familiären Leben Aufmerksamkeit geschenkt wird: „Bei der Regelung von Migrationen soll das häusliche Zusammenleben ganz und gar sichergestellt werden.“ (Apostolicam Actuositatem 11,2)
Migration ist zumeist mit sozialen Fragen verbunden. Darauf weist das Kompendium der Soziallehre der Kirche (hrsgg. vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden 2004) hin.
297 „Die Einwanderung muss kein Hindernis, sie kann vielmehr eine Quelle der Entwicklung sein.“
298 „Die Institutionen der Aufnahmeländer müssen sorgfältig darüber wachen, dass die Versuchung nicht an Boden gewinnt, ausländische Arbeitskräfte auszubeuten, indem man ihnen die Rechte, die den inländischen Arbeitskräften garantiert sind und allen ohne Unterschied zugestanden werden müssen, versagt.“
In diesem Zusammenhang braucht es sicherlich ein kontinuierliches Monitoring von verschiedenen Seiten.
Sogar im Kirchenrecht erhält die Sorge um die Migrant/innen Beachtung: Dort legt man dem Pfarrer eine besondere Aufmerksamkeit „den aus ihrer Heimat Verbannten“ gegenüber nahe (vgl. can. 529, § 1), gegebenenfalls in Form einer Sonderseelsorge (vgl. can. 568). Auch die Errichtung von Personalpfarren kommt in Betracht sowie das besondere Engagement durch dafür beauftragte Personen (vgl. can. 476 und can. 568).
Pastorale Leitlinien
Daraus ergeben sich praktische Konsequenzen für die Pastoral.
Im Mittelpunkt steht die Person. Es geht um konkrete Menschen, deren Würde und deren Rechte zu verteidigen sind, die vor jeglicher Diskriminierung geschützt werden sollen. Das ist angesichts der realen Situation unserer Gesellschaft, an der auch Christen ihren Anteil haben, eine große Herausforderung.
Der Wert der verschiedenen Kulturen ist zu schätzen. Zugleich fordert die kulturelle Vielfalt heraus, auch miteinander über existenzielle Fragen ins Gespräch zu kommen: über den Sinn des Lebens, der Geschichte, des Leides, der Armut; aber auch: Was ist Glück? Welche Werte sind tragfähig? Was hilft, als Mitmenschen gut und friedlich zusammenzuleben?
Dieser Austausch im Kleinen eröffnet eine Ahnung, wie anderswo das Leben verstanden wird. Damit bietet sich hier eine Möglichkeit für einen Blick in die Welt. Wenn aber das Zusammenleben hier gelingt, stellt dies ein Symbol dafür dar, dass Friede möglich ist. In diesem Sinn können Migrant/innen zusammen mit Einheimischen auch einen Beitrag für eine allgemeine Entwicklung zu mehr Frieden in dieser Welt leisten.
Zugleich ist zu sehen, dass die Kirche vor Ort in Europa immer wieder durch Migrant/innen zukunftsfähiger wird. Ihre Präsenz und ihr Mitleben in Pfarren, Einrichtungen und Gruppierungen bewirkt immer wieder eine Verlebendigung.
Eine Migranten-Pastoral bedarf des wertschätzenden Umganges mit den mitgebrachten kulturellen Schätzen der Neu-Ankömmlinge – auch liturgisch. „Die Feier der heiligen Liturgie im Ritus der eigenen Kirche sui iuris ist in der Tat wichtig, weil sie die spirituelle Identität der Migranten aus den katholischen Ostkirchen bewahrt – wie übrigens der Gebrauch ihrer Sprachen bei den heiligen religiösen Handlungen“ (Erga migrantes caritas Christi 46). In der Praxis bedeutet dies, dass ihnen Raum gegeben werden soll, ihre Art und Weise der Verehrung Gottes, in der sie eine geistliche Beheimatung finden, zu praktizieren. Denn damit kann „die liturgische Feier zum lebendigen Ausdruck der Gemeinschaft der Gläubigen werden, die hic et nunc auf den Wegen des Heils pilgern.“ (Erga migrantes caritas Christi 44)
Grenzziehungen
Im Zusammenleben von Menschen ist auf Empfindlichkeiten zu achten. Dies gilt für alle Beteiligten. So hat jede noch so große, wünschenswerte Offenheit auch Grenzen, die zu berücksichtigen sind. Eine davon betrifft die ganz praktische Achtung in der Benutzung von kirchlichen Räumen.
„Um angesichts der religiösen Verschiedenheiten, die wir gegenseitig anerkennen, Missverständnisse und Verwirrungen zu vermeiden, halten wir es aus Achtung vor den eigenen geweihten Stätten und auch gegenüber der Religion des Anderen nicht für angebracht, dass katholische Einrichtungen wie Kirchen, Kapellen, Kultstätten und Örtlichkeiten, die im Besonderen Tätigkeiten der Evangelisierung und der Pastoral vorbehalten sind, den Anhängern nichtchristlicher Religionen zur Verfügung gestellt werden. Noch weniger sollen sie dazu verwendet werden, Forderungen, die sich an die öffentlichen Behörden wenden, Gehör zu verschaffen. Die Räumlichkeiten sozialer Funktion hingegen – Räume für die Freizeit, das Spiel und andere Momente der Sozialisation – können und sollen für Personen anderer Religionen offen bleiben, unter Beachtung der Regeln, die an solchen Orten zu befolgen sind.“ (Erga migrantes caritas Christi 61)
Auch eine – katholische – Grundausrichtung von Schulen, Kindergärten und anderen pädagogischen Einrichtungen wird ihrer Linie treu bleiben, wenngleich man in angemessener Weise auf nicht-katholische Kinder und Mitarbeiter/innen Rücksicht nehmen wird. Diese Einrichtungen sollen „ihre besonderen Eigenheiten und ihr christlich orientiertes Erziehungskonzept nicht verleugnen, wenn Kinder von Migranten anderer Religionen als Schüler aufgenommen werden.“ (Erga migrantes caritas Christi 62)
Zwischenmenschliche Beziehungen erfordern eine hohe Sensibilität. Je mehr Gemeinsames Menschen haben, desto mehr verbindet sie, desto stärker ist ein gemeinsames Fundament. Das soll eine Begeisterung füreinander nicht ausblenden. Deshalb ist ein kirchlicher Rat hier zurückhaltend: „Von einer Heirat zwischen Katholiken und nichtchristlichen Migranten wird man mit unterschiedlichem Nachdruck je nach Religion abraten müssen“ (Erga migrantes caritas Christi 63), wobei es natürlich immer Ausnahmen geben mag.
Ein Zusammenleben funktioniert nur auf Gegenseitigkeit. Auch wenn von einer Seite manchmal „mehr“ gefordert ist (weil diese auch in der Lage ist, mehr zu geben), braucht es stets ein angemessenes beiderseitiges Entgegenkommen. „In den Beziehungen zwischen Christen und Angehörigen anderer Religionen gewinnt schließlich das Prinzip der Gegenseitigkeit wieder große Bedeutung. Dieses Prinzip ist nicht als eine bloß fordernde Haltung zu verstehen, sondern als eine Beziehung, die auf der gegenseitigen Achtung und auf der Gerechtigkeit im juristisch-religiösen Umgang aufbaut.“ (Erga migrantes caritas Christi 64)
Solche Grenzziehungen sind für das eigene Profil, für die eigene Identität, notwendig. Und man sollte sehr, sehr genau überlegen, wann man im Einzelfall einmal darauf verzichten könnte.
Zeichen der Hoffnung
Migration ist nicht nur ein Zeichen der Zeit, es ist auch ein Zeichen der Hoffnung. Dies soll in unserem Engagement immer wieder hervorgehoben werden. Sowohl die Gesellschaft als auch die Kirche können auf vielfache Weise durch Migrant/innen profitieren, wenn man ihnen hilft und ermöglicht, ihre Lebenschancen zu ergreifen. Es ist bemerkenswert, dass die heutigen Bemühungen, Grenzen sinnvoll zu überwinden, erst durch die Entstehung streng kontrollierter Grenzen – nach Entstehung und Profilierung der Nationalstaaten auf europäischem Boden, erst notwendig wurden. „Es ist für uns heute kaum mehr vorstellbar, dass es bis zum Ersten Weltkrieg ganz selbstverständlich war, dass die Grenzen etwa nach Deutschland oder Frankreich ohne weiteres überquert werden konnten, dass es praktisch keine Ausweiskontrollen gab, dass man hüben wie drüben wohnte, arbeitete und auch heiratete. Das alles gilt uns vielmehr als Erscheinung der neuen europäischen Öffnung, doch Regionen in Grenznähe waren einst offener gegenüber dem benachbarten Ausland, als das heute mit der Freizügigkeit der Fall ist. (…) Das fehlende Bürgerrecht oder der Zufall, in einer armen Gegend geboren zu sein, führten zu den gleichen Wanderbewegungen wie heute, nur einfach in einer anderen räumlichen Dimension – noch nicht interkontinental.“ (Walter Leimgruber, NZZ.ch, 3.1.2013 Online)
Solange Politik noch keine voll entwickelte Welt-Innenpolitik geworden ist, kollidieren die unter allen Umständen geltende Würde des Menschen mit den verschiedenen staatlichen Rechten und Pflichten der Staatsbürger.
Besonders dramatisch ist der Fall von Staatenlosen, bei denen De-facto-Existenz als Mensch und staatliche Rechtlosigkeit radikal zusammenstoßen. Die Staatenlosen haben m. E. ein Naturrecht auf Unterstützt-Werden bzw. Sich-selber-helfen-Dürfen angesichts ihrer schlichten Existenz.
Die Kirche wiederum wird durch die Präsenz von Migrant/innen auch an Pfingsten erinnert. Hier wurden Sprachbarrieren und Unterschiede der Herkunft überwunden. „Die Migrationen bieten den einzelnen Ortskirchen die Gelegenheit, ihre Katholizität zu überprüfen, die nicht nur darin besteht, verschiedene Volksgruppen aufzunehmen, sondern vor allem darin, unter diesen ethnischen Gruppen eine Gemeinschaft herzustellen. Der ethnische und kulturelle Pluralismus in der Kirche stellt keine Situation dar, die geduldet werden muss, weil sie vorübergehend ist, sondern eine ihr eigene strukturelle Dimension. Die Einheit der Kirche ist nicht durch den gemeinsamen Ursprung und die gemeinsame Sprache gegeben, sondern vielmehr durch den Pfingstgeist, der Menschen aus unterschiedlichen Nationen und verschiedener Sprache zu einem einzigen Volk zusammenfasst und so allen den Glauben an denselben Herrn verleiht und aufruft zur selben Hoffnung.“ (Erga migrantes caritas Christi 103)
Es wäre schön, wenn sich auch durch unseren eigenen Beitrag die Con-Vivenz (das Miteinanderleben) mit den Migranten zu einer wechselseitigen Pro-Vivenz (einem Füreinanderleben) weiterentwickeln könnte.