60 Jahre "Gaudium et spes": Theologen orten offene Baustellen
Wie aktuell ist „Gaudium et spes“ – eines der zentralen, vor 60 Jahren verabschiedeten Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) – noch? Wurde das darin neu justierte Verhältnis von Kirche und Welt bereits vollständig rezipiert und für die Seelsorge fruchtbar gemacht? Oder braucht es ein „Update“? Diese Fragen stehen im Zentrum einer Tagung, die derzeit im Salzburger Bildungszentrum St. Virgil stattfindet. Rund 50 Expertinnen und Experten aus Pastoral und Theologie aus dem gesamten deutschen Sprachraum diskutieren noch bis Mittwoch (26. September) unter dem Titel „Mit Gaudium et spes in die Zukunft“. Tatsächlich zeigte sich in den bisherigen Vorträgen: Es gibt eine Diskrepanz zwischen theologischen Kernaussagen des Dokuments und pastoralen Entwicklungen in der Gegenwart.
So ortete etwa der Grazer Pastoraltheologe und Hauptorganisator der Tagung, Prof. Bernd Hillebrand, „Leerstellen“, wenn das Lehramt Kirche weiterhin unbeeindruckt als „societas perfecta“ und absolutistisches Institution versteht, während „Gaudium et spes“ ausdrücklich ein „reziprokes Lernverhältnis“ einmahne, also ein gegenseitiges Lernen. Indem das Dogma „unangetastet“ bleibe, komme es in Folge auch in der Pastoral immer nur zu „pragmatischen Anpassungen“ und dem Ringen um Innovation. „Rettungsversuche“, die nicht sehen, dass der Kern des Problems ein theologischer ist, so Hillebrand.
Erst wenn man Gott als „schwachen Gott“ denke und in Folge einen Begriff einer „schwachen Kirche“ entwickle, würde sichtbar, wohin eine zeitgemäße Pastoral sich entwickeln müsste: In Richtung einer „gastlichen Kirche“, die sich ganz in den Dienst der Begegnung stellt und die Anliegen der Menschen wirklich ernst nimmt, ohne ihn gleich wieder kirchlich-dogmatisch zu vereinnahmen, so Hillebrand: „Gerade diese Bedingungslosigkeit und Nutzlosigkeit nutzt dem guten Leben in der Zivilgesellschaft.“ Dazu brauche es aber entsprechend ausgebildete „beziehungsinteressierte und beziehungsstarke Menschen“ – und entsprechende Ausbildungsräume.
Lernraum der „Entkirchlichung“
Von einem in die Zukunft hin offenen „Lernprozess“ im Blick auf „Gaudium et spes“ sprach auch der Karlsruher Theologe und Mitinitiator der Tagung, Prof. Michael Quisinsky. Das Konzil habe wichtige Werkzeuge an die Hand gegeben, aber es biete nicht auf alle heute relevanten theologischen und pastoralen Fragen Antworten, so Quisinsky laut Presseaussendung der Erzdiözese Salzburg. Ein neues Zusammendenken etwa der Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ und der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ würde zu viel „perspektivenreicheren Antworten“ im Blick auf die Frage nach dem Welt-Kirche-Verhältnis, nach dem Sakramentenverständnis und auch nach der Amtsfrage führen. Auch Quisinsky sah heutige Kirchenentwicklungsprozesse in der Gefahr, „das Konzil nur teilweise in den Blick zu bekommen“. Hier sei gerade mit Blick auf das vom Konzil formulierte „Aggiornamento“ noch Luft nach oben.
Ein „prophetisches Zukunftspotenzial“ erkannte der Pariser Theologe und Synodenteilnehmer Prof. Christoph Theobald in „Gaudium et spes“. Dies liege in der Aufforderung, die „Zeichen der Zeit“ zu erkennen und offenbarungstheologisch zu reflektieren. Hier würden sich vielfältige „Lernräume“ zwischen Dogma und Pastoral öffnen, so Theobald. Deutlich kritischere Worte kamen vom Salzburger Theologen Prof. Hans-Joachim Sander: Die Sprengkraft von „Gaudium et spes“ bestehe in der darin festgehaltenen kirchlichen Selbstrelativierung, die heute noch nicht theologisch eingeholt worden sei. „Der Glaube der Kirche wird entkirchlicht. Es kommt nicht auf die Kirche an, sondern auf Freude, Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute.“ Insofern sei das Christentum als eine Religion zu verstehen, die auf die „Überwindung der eigenen Religiosität“ abziele.
Weitere Referentinnen und Referenten waren der Gießener Theologe Prof. Ansgar Kreutzer, der Salzburger Theologe Prof. Martin Dürnberger, die Freiburger Theologin Prof. Daniela Blum, die Leuvener Theologin Prof. Dries Bosschaert, sowie die Osnabrücker Theologin Prof. Margit Eckholt.
Innovative Formate und Fortsetzung 2025
Innovativ zeigte sich die Tagung, die von St. Virgil in Kooperation mit der Katholischen Hochschule Freiburg, der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz und dem Österreichischen Pastoralinstitut (ÖPI) durchgeführt wurde, auch in der gewählten Methodik. Diese sah nicht nur klassische Vortragsformate vor, sondern u.a. ein „Round Table“-Gespräch zum Konzilstheologen Marie-Dominique Chenu (1895-1990) und die Präsentation von neuen seelsorglichen Ansätzen und konkreten pastoralen Projekten. Dabei wurde u.a. das Wiener Maturasegen-Projekt „Be blessed“, das Jugend-Sozialprojekt „72h ohne Kompromiss“ und die Licht-Klang-Performances „Holy Hydra“ in Oberösterreich vorgestellt, bei der Sakralräume für ein junges Publikum geöffnet werden.
Fortgesetzt werden soll die Auseinandersetzung mit „Gaudium et spes“ mit einer weiteren Fachtagung vom 10. bis 12. Februar 2025 im Tagungszentrum Stuttgart-Hohenheim. Diese Tagung wird unter dem Titel „Dogma und Pastoral in der Beziehungskrise“ stehen und der Frage nachgehen, wie kirchliche Praxis und theologische Theorie ihren Dienst in der Gesellschaft gemeinsam wahrnehmen können. Nähere Details dazu sollen demnächst auf der Webseite der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart veröffentlicht werden. (Infos: www.akademie-rs.de)