Die Bedeutung katholischer Migrantengemeinden
Aus Herausforderungen wachsen Bedürfnisse
Migration ist also nicht einfach. Die Einsamkeit ist nur eine von vielen Herausforderungen, auf die Migrantinnen und Migranten hier treffen. Weitere Herausforderungen sind:
- Sprachliche und kulturelle Herausforderungen
- Instrumentelle, informationelle und strukturelle Herausforderungen
- Psychische Herausforderungen
- Soziale Herausforderungen
- und religiöse Herausforderungen
Wenn man sich in die Situation von Zuwanderern hineinversetzt: Wo würde man mit diesen Bedürfnissen hingehen? – Es gibt einige Möglichkeiten, wo man solche Bedürfnisse befriedigen kann: am Arbeitsplatz, im Kulturverein, im Sportclub… usw.
Aber auch religiöse Gemeinschaften sind hierfür sehr gut geeignet, denn sie sind genau auf solche Bedürfnisse spezialisiert. In vielen religiösen Gemeinschaften gibt es:
- Materielle Unterstützung (z.B. Hilfe bei Umzug, Kinderbetreuung, Arbeitsbörse)
- Informationelle Unterstützung (Orientierungshilfen: Wer? Wie? Was? Wo?)
- Emotionale Unterstützung (Geborgenheit, Heimatgefühl, Wertschätzung)
- Spirituelle Unterstützung (Gottesdienste, Seelsorge, „etwas Sinnvolles tun“, religiöse Weiterbildung)
- Gemeinschaft (Familienersatz, Freunde, Sicherheitsgefühl, Zugang zu sozialen Netzwerken, „Vitamin B“) usw.
Prozesse der sozialen Integration
Diese Ressourcen werden nicht nur in Migrationsgemeinden bereitgestellt, sondern auch in normalen Territorialpfarreien. Die Schwierigkeit besteht für Migrantinnen und Migranten in den Pfarreien jedoch darin, dass diese sozialen Unterstützungsleistungen durch andere Menschen vermittelt werden, die man eben noch nicht kennt. Das bedeutet, dass sie zuerst andere Gemeindemitglieder kennenlernen oder Teil der Gemeinde werden müssen, bevor sie von ihnen unterstützt werden können.
Aber selbst wenn eine Person jeden Sonntag den Gottesdienst besucht, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie deswegen mit vielen Gemeindemitgliedern in Kontakt kommt. Sie wird erst dann von sozialer Unterstützung wie Wertschätzung, Geborgenheit oder emotionaler Nähe profitieren können, wenn sie mit anderen Menschen vertrauensvolle Beziehungen aufbaut.
Doch die soziale Integration in eine Gemeinschaft ist gar nicht so einfach.
Meiner Ansicht nach spielen beim Prozess der sozialen Integration zwei Typen von Menschen eine entscheidende Rolle: „Türöffner“ und „soziale Rezeptoren“.
Türöffner:
Personen, die so aktiv auf Neulinge zugehen, nenne ich Türöffner.
(Vielleicht waren Sie schon einmal in einer Freikirche. Dort ist das Amt des Türöffners oft institutionalisiert. Es gibt Menschen die Badges tragen oder am Eingang stehen und jeden begrüßen, der kommt. Mit so einer Ansprache ist bereits eine erste Kontaktaufnahme geschehen und das Eis schon ein bisschen gebrochen. Das erleichtert die Integration in die Gemeinde sehr.)
Türöffner sind jedoch nicht das einzige, was es braucht, damit ein Neuankömmling Teil einer Gemeinschaft wird.
Soziale Rezeptoren:
Es braucht in einer Gemeinschaft auch soziale Rezeptoren, also Menschen, die Migrantinnen und Migranten so-wie-sie-sind in ihren Freundeskreis aufnehmen
und über die Gottesdienste hinaus eine Beziehung mit ihnen pflegen.
„So-wie-sie sind“: das bedeutet mit all ihren sprachlichen, kulturellen und religiösen Eigenheiten.
Oft wird gesagt: Migranten sollen sich so schnell wie möglich einheimische Freunde suchen.
Doch das bedeutet, dass es gleichzeitig einheimische „Rezeptoren“ geben müsste, die Zuwanderer in ihren Freundeskreis aufnehmen, selbst wenn sie noch nicht perfekt in unsere Gesellschaft integriert sind und unsere Sprache noch nicht beherrschen. Doch solche Menschen sind selten. Deswegen sind andere Migrantinnen und Migranten in der Regel viel bessere Rezeptoren. Schon deswegen, weil sie selber auf der Suche nach sozialem Anschluss sind.
Die Bedeutung soziokultureller Unterschiede
Eine persönliche Erfahrung: Ich gehe nun seit vielen Jahren am Sonntag in den katholischen Gottesdienst. Und dennoch habe ich dort noch kaum je mit einer Person geredet, die ich nicht schon vorher kannte. - In Migrantengemeinden ist das anders. Schon beim ersten Mal, als ich den englischsprachigen Gottesdienst besucht habe, ist der zuständige Pastoralassistent auf mich zugekommen und hat sich mir vorgestellt.
Allein dieses Beispiel zeigt, dass in Migrationsgemeinden ein anderer sozialer Umgang herrscht.
In einer normalen Pfarrei besuchen viele einfach den Gottesdienst und gehen danach wieder nach Hause. Migrationsgemeinden sind dagegen eher wie kleine Familien, wo man sich kennt, miteinander plaudert und nach dem Gottesdienst noch etwas zusammen unternimmt.
Dazu kommt, dass die meisten Pfarreien nicht auf die spezifischen Bedürfnisse von Migrantinnen und Migranten spezialisiert sind. Die Migrationsgemeinden hingegen, sind genau auf diese Bedürfnisse spezialisiert, weil sie sich schon Jahre lang mit deren Herausforderungen auseinandergesetzt haben.
Ein weiterer Aspekt sind die religiösen Unterschiede. Selbst wenn Zuwanderer und Einheimische beide konfessionell katholisch sind, bedeutet das noch lange nicht, dass sie auch an dasselbe glauben und dieselben Werte teilen. Vielen Migrantinnen und Migranten fällt es sehr schwer, die Religiosität der Österreicher/Schweizer/Deutschen zu verstehen, weil wir hier viel stärker von der Aufklärung geprägt und viel stärker Individualisiert sind, als dies in anderen Ländern der Fall ist. Selbst, wenn jemand konfessionell katholisch ist, bedeutet das zum Beispiel noch lange nicht, dass er der katholischen Lehre in jedem Bereich zustimmt. Für Personen, die aus einem anderen kulturellen Kontext stammen, kann dies sehr verwirrend sein.
Weltweit gibt es nur eine katholische Kirche. Aber nicht alle Katholiken sind in soziokultureller Hinsicht genau gleich. Manche pflegen einen charismatischen Frömmigkeitsstil, andere einen traditionellen. Manche sind (kirchen-)politisch eher liberal andere eher konservativ.
Je nach Herkunftsland und -region existieren auch Unterschiede in Bezug auf die Sprache und die religiöse Kultur. Betrachtet man die Kirche in ihrer Gesamtheit, findet man sogar Personen, die gegenteilige Ansichten vertreten.
Wenn die kulturellen und religiösen Unterschiede zwischen einer Person und einer Gemeinde zu groß sind, wird ihr die soziale Integration darin schwer fallen.
Soziokulturelle Unterschiede sind auch ein wichtiger Grund dafür, wieso viele Migrantinnen und Migranten das Gefühl haben, dass sie sich in Migrationsgemeinden einfacher integrieren können als in den Territorialpfarren. In ihren eigenen Gemeinden treffen sie eher auf Personen, die ihnen in kultureller und religiöser Hinsicht entsprechen.
Sowohl die fremdsprachigen Gemeinden als auch die Pfarreien müssen heute Wege finden, um mit der internen Pluralität der katholischen Kirche umzugehen, damit möglichst alle Gläubigen eine soziale und spirituelle Heimat finden.
In großen Migrationsgemeinden bilden sich oft soziokulturelle Untergruppen, die in sich wieder etwas homogener sind: Die Charismatiker treffen sich beispielsweise am Dienstag in der Kapelle, die Intellektuellen im Untergeschoss. Die Rosenkranzgruppe kommt am Freitag und die Jugendlichen treffen sich am Samstag …
Zusammenfassung
Wenn eine Person aus einem anderen Land kommt, ist sie hier in der Regel mit
vielfältigen Herausforderungen konfrontiert. Durch diese Herausforderungen entstehen migrationsspezifische Bedürfnisse. Zu den wichtigsten Bedürfnissen Aspekte wie: Geborgenheit, Gemeinschaftsgefühl, Familienersatz, emotionale Wärme, spiritueller Halt, Lebenssinn und Heimatgefühl. Das sind alles Bedürfnisse, die schwer messbar oder auch nur in Worte zu fassen sind. Sie sind aber für einen Menschen sehr wichtig.
Viele Migrantinnen und Migranten suchen nach Orten, wo sie diese Bedürfnisse
befriedigen können. Wenn sie katholisch sind, versuchen sie das nicht selten zuerst in der nächstgelegenen Pfarrei. Manchmal klappt das auch sofort und sie fühlen sich hier wie zu Hause.
Aber vielen fällt es in den hiesigen Gemeinden schwer, sozialen Anschluss zu finden. Aus diesem Grund sind fremdsprachige Gemeinden so wichtig. Hier gelingt der soziale Anschluss oft besser. Zudem verfügen diese Gemeinden über jahrelange Erfahrungen mit Migranten, wissen genau über deren Bedürfnisse Bescheid und haben entsprechende Angebote für sie etabliert.
Wenn es keine fremdsprachigen Gemeinden gibt, oder wenn die Integration dort nicht klappt, gehen die Gläubigen nicht etwa zurück in die Pfarrei, sondern sie verlieren oft den Bezug zur katholischen Kirche und versuchen ihre Bedürfnisse an anderen Orten oder in anderen Gemeinschaften zu stillen. Viele Migrantinnen und Migranten waren sogar im Herkunftsland in der katholischen Kirche engagiert, hier jedoch haben sie jeden Bezug zur Kirche verloren. Oft geschah dies, weil sie nicht einmal wussten, dass es eine fremdsprachige Gemeinde für ihre Sprachgruppe gibt.
Für die Zukunft ist es daher wichtig, dass auch die Territorialpfarreien eine gewisse Sensibilität für Migranten und deren Bedürfnisse entwickeln. Wenn man dort wahrnimmt, dass sich eine neue Person nicht wohl fühlt, dann sollte ihr dabei geholfen werden, entweder innerhalb der Pfarrei oder in einer geeigneten Migrationsgemeinde sozialen Anschluss zu finden.
Gekürzt und bearbeitet aus dem Artikel von Simon Foppa, Kirche im Zeitalter der Migration: